"Das passiert im wahren Leben nicht"

Von Jan-Hendrik Böhmer
Devin Barclay nach seinem Game-Winning-Fieldgoal gegen Iowa
© Getty

Die Ohio State University gilt aktuell als zweitbestes College-Football-Team der USA. Bereits in der vergangenen Saison gewannen die Buckeyes überraschend den Rose Bowl, eines der wichtigsten Endspiele im College Football. Dass sie überhaupt soweit kamen, verdanken sie Devin Barclay. Einem ausgemusterten Fußball-Profi, der sie in diesem Jahr zum Titel kicken soll. Bei SPOX erzählt er seine ungewöhnliche Geschichte.

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Devin Barclay sitzt im Easy Living Deli. Einem kleinen Restaurant in Columbus, Ohio. Direkt am Campus der Ohio State University. An den Wänden: Trikots, Bilder, Wimpel der Buckeyes. Selbst die rot-weißen Plastik-Zahnstocher sehen hier nach College-Football aus.

Auf dem Tisch: ein Truthahn-Sandwich. Frisch gebackenes Brot. Dick belegt. Als Beilage: saure Gurken. Barclays Lieblingsgericht im Deli. Ganz oben auf der Karte, für 4.50 Dollar.

Doch Barclay hat keinen Hunger. Er ist fertig - und hat Angst vor der Zukunft.

Die Karriere? Am Ende. Mit 22!

Gerade wurde er von der Columbus Crew entlassen, dem hiesigen Major-League-Soccer-Team. Das Crew Stadium ist keine drei Meilen vom Easy Living entfernt. Es war Barclays Heimat in den letzten zwei Jahren. Seine vierte Station als Fußball-Profi in nur fünf Jahren. Und seine letzte. Denn Barclays Karriere ist beendet.

Die Schulter ist kaputt. Das Knie auch. 90 Minuten laufen? Unmöglich. In den letzten zwei Jahren hat er kaum gespielt, ständig seine alte Form gejagt. "Und wenn du es nicht mehr bringst, dann bist du entbehrlich. Talent hin oder her: so ist das Geschäft", sagt Barclay zu SPOX.

Das war 2005, Barclay war damals gerade 22 Jahre alt.

"Soll ich alles ins Klo schmeißen?"

Und Fußball war sein Leben. "Mein Vater kommt aus England, war Profi in den USA. Bei uns war Fußball immer die Nummer eins", sagt Barclay. "Es gab nie etwas anderes".

Devin selbst gilt bereits in der High School als einer der besten Fußballer der USA, wird direkt aus der Schule in die MLS gedraftet. Dort spielt er an der Seite von Stars wie Carlos Valderrama und Hristo Stoichkow, in der Junioren-Nationalmannschaft kickt er mit Landon Donovan. In der MLS-Pause trainiert er sogar für drei Monate in der englischen Premier League. Bei Tottenham Hotspur - direkt neben seinem Kindheits-Idol: Teddy Sheringham.

"Wenn deine Karriere so beginnt, dann denkst du natürlich, dass sie noch sehr lange und sehr erfolgreich so weitergeht", erklärt Barclay. Doch das tat sie nicht.

"Natürlich hätte ich noch einmal irgendwo komplett neu anfangen können. Ganz unten. Ohne Geld zu verdienen", sagt er. "Aber soll ich wirklich alles ins Klo schmeißen, um eine Karriere am Leben zu erhalten, die am Ende doch dem Untergang geweiht ist?"

Die Antwort gibt er selbst: "Ich musste mir etwas einfallen lassen."

Nach der Abendschule an die Uni

Denn: "Wenn ich noch ein paar Jahre irgendwo in der Versenkung gekickt hätte, hätte ich es vermutlich nie mehr geschafft, etwas Ordentliches zu lernen. Und welcher Arbeitgeber stellt schon einen 30-jährigen Ex-Fußballer ohne Ausbildung ein?", fragt Barclay.

Vermutlich niemand. Und deshalb entschließt er sich, wieder zur Schule zu gehen. Will Sport- und Freizeitwissenschaften studieren, vielleicht sogar Trainer werden.

Doch das ist nicht so einfach. Schließlich verließ er für den Fußball die High School, bevor er alle nötigen Prüfungen abgelegt hatte. Er muss auf die Abendschule, bevor er sich an der Ohio State University einschreiben kann. Doch er kniet sich rein - und wird genommen.

"Ich dachte: das kannst du auch"

Aber wie kommt ein ausgemusterter Fußballer nun zum American Football?

"Das ist eine verrückte Geschichte", sagt Barclay und erzählt von einem Fernsehabend bei Freunden, an dem sie einen alten Football im Schrank fanden und irgendwie auf die Idee kamen, auf ihrem alten High-School-Spielfeld ein bisschen zu kicken. Einfach so.

"Im Fernsehen sieht das schließlich immer so einfach aus", meint Barclay. "Also dachte ich: das kannst du auch." Und er kann. "Wenn man mit einem Fußball umgehen kann, ist es gar nicht so schwer", sagt er. "Es geht nur darum, den Ball in die Luft zu kriegen, anstatt ihn ins Tor zu schießen. Einen harten Schuss hatte ich schon immer."

Als ihn dann auch noch ein Freund zu einem Spiel der Buckeyes mitnimmt, ist es um Barclay geschehen. Das Football-Fieber hat ihn gepackt. Immer häufiger trainiert er jetzt - und hat dann auch noch das Glück, das zu solchen Geschichten einfach dazugehört.

Aus dem Restaurant auf den College-Trainingsplatz

Auf einer Wohltätigkeits-Aktion der Columbus Crew lernt er Team-Pfarrer Jim Schmidtke und dadurch auch Vlade Janakievski kennen. Der ist nicht nur zufällig der Besitzer von Barclays Lieblings-Restaurant Easy Living, sondern auch ein ehemaligen Kicker der Ohio State Buckeyes. Und er ist von Barclays Geschichte fasziniert, will ihn umgehend in Aktion sehen und findet bereits nach zwei Kicks: der Junge hat Talent!

Deshalb bringt er Barclay kurzerhand mit Dan Stultz zusammen, einem weiteren ehemaligen Buckeyes-Kicker. Der nimmt den Ex-Fußballer unter seine Fittiche und trainiert mit ihm. Als Pfarrer Schmidke das gemeinsame Training dann auch noch filmt und an die Scouts des Football-Teams schickt, findet sich Barclay plötzlich beim offiziellen Probetraining wieder.

"Ab da war es einfach" sagt Barclay. "Ich würde mich nicht als Naturtalent bezeichnen, aber als Fußballer war es schon ziemlich einfach." Schnell hat er einen Platz im Team.

"Sie nennen es Old Man River"

Eine tolle Geschichte? Ein Sportler-Comeback? Von wegen! Barclay ist lediglich ein Walk-On. Ohne Stipendium. Ohne Ansehen. Nur der dritte Kicker im Team. Er hat nicht mal ein eigenes Trikot - geschweige denn eine Nummer. Mit 26 ist er zwar der älteste Spieler des Teams - aber auf der anderen Seite auch der mit der geringsten Football-Erfahrung.

Seine Teamkollegen reißen Witze. Nennen ihn Rentner und fragen, ob es an der Uni Senioren-Parkplätze gibt. "Und wenn ich pinkle, dann nennen sie es Old Man River", gesteht Barclay. Doch das ist nur Spaß. Er versteht sich mit den Kollegen. "Es ist eine andere Welt", meint er. "Aber die Jungs hier sind nett. Ich habe gute Freunde gefunden." Barclay genießt das Training und fühlt sich immer wohler. Noch ein Jahr Training, dann will er angreifen.

Der Sprung ins kalte Wasser

Doch es kommt der 31. Oktober 2009. Und eine Verletzung, die Barclay plötzlich ins Rampenlicht katapultiert. Starting-Kicker Aaron Pettrey fällt mit einem Bänderriss aus. Mitten im Spiel. Mitten in der entscheidenden Phase der Saison.

Barclay muss ran. Sofort. Sein erster Kick - vor 104.719 Fans.

"Zuerst war es ein Schock", sagt er. "Aber dann habe ich gedacht: Das ist deine Chance. Und im Leben geht es darum, bereit zu sein, wenn sich eine Chance auftut."

Ein filmreifes Happy End?

Und er ist bereit. "Ich habe hart gearbeitet. So hart wie noch nie. Obwohl ich nie spielen durfte, habe ich auf mich acht gegeben. Habe viele Dinge gemacht, die ich selbst als Profi-Fußballer nicht gemacht habe und vielleicht hätte machen sollen. Ich war so bereit, wie ich nur sein konnte", sagt Barclay. Sein erstes Fieldgoal versenkt er aus 29 Yards.

Alleine das wäre ein filmreifes Happy End gewesen. Ein toller Abschluss für die Geschichte des Devin Barklay. Doch es ist nicht das Ende. Es ist nur der Vorhang nach dem ersten Akt. Der echte Showdown sollte erst noch kommen: und zwar im Spiel gegen Iowa. Den direkten Konkurrenten um den Divisions-Titel und den Einzug in den Rose Bowl.

Das Adrenalin sagt nur: go go go!

Und was gegen Iowa passiert, könnte genau so gut aus der Feder eines Hollywood-Autoren stammen. Am Ende der regulären Spielzeit steht es nämlich 24:24. Es geht in die Verlängerung. Und ausgerechnet Barclay hat die Entscheidung auf dem Fuß. Aus 39 Yards.

"Da musst du alles ausblenden", erklärt er. "Als Kicker hast du nur diesen einen Spielzug. Es muss alles sofort passen. Schließlich stehst du nicht beim nächsten Snap wieder auf dem Feld und kannst einen möglichen Fehler wieder gut machen. Du musst dein Adrenalin unter Kontrolle haben. Denn das sagt einfach immer nur: go go go! Da musst du aufpassen."

Doch Barclay hat alles im Griff. Noch bevor der Ball die Torstangen passiert, reißt er die Arme hoch. "Manchmal hat man es eben im Gefühl, das alles gut ist", sagt er. "Das war so ein Moment." In der jubelnden Masse aus Football-Spielern ist er nicht mehr zu erkennen. Irgendwer reißt ihm sogar das provisorisch angenähte Namensschild vom Jersey mit der Nummer 23.

Und dann: ein Held

Plötzlich ist er ein Held. Die Buckeyes stehen im Rose Bowl. Zum ersten Mal seit 1997. Und das wegen seines Kicks. Doch es wird sogar noch besser. Denn eigentlich sollte Barclay nach Pettreys Genesung pünktlich zum Endspiel wieder auf die Bank. Doch Head Coach Jim Tressel entscheidet: Barclay spielt. Er hat seinem Vorgänger den Rang abgelaufen.

Im Rose Bowl verwandelt er als neue Nummer eins drei von drei Fieldgoal-Versuchen - und überlässt den letzten Kick seinem Vorgänger. Es ist eine Geste.

"So etwas passiert im richtigen Leben nicht"

Denn jetzt ist Barclay die Nummer eins. Bei einem der besten College-Teams des Landes. "Das hätte ich mir so nie ausmalen können", sagt er. "Absolut nicht. Es war ein winziges Licht am Ende des Tunnels. Und wenn ich auch nur eine Sekunde daran gedacht hätte, hätte ich mir sofort gesagt: 'Hey, wach auf. So etwas passiert im richtigen Leben nicht'".

Doch es ist passiert. Und mittlerweile gibt es sogar Experten, die Devin Barclay den Sprung in die NFL zutrauen. Schließlich spielt Vorgänger Aaron Pettrey mittlerweile bei den Detroit Lions - und Barclay habe mindesten genau soviel Talent, heißt es.

Und jetzt: eine Chance auf die NFL?

"Aber darauf zu bauen, wäre wie auf einen Lotterie-Gewinn zu hoffen", sagt Barclay - und lacht: "Das wäre schon verdammt viel Glück für ein einziges Leben. Ich beschränke meine Hoffnungen also ganz bestimmt nicht auf den Traum von der NFL. Aber wenn ich am Ende tatsächlich die Möglichkeit bekomme, werde ich mir das natürlich genau ansehen."

Bis es soweit ist, muss er allerdings eine überragende Saison spielen. Die Buckeyes gelten vor dem Saisonstart als heißer Kandidat auf den Einzug in das BCS Championship Game - das Endspiel um den amerikanischen College-Football-Titel.

Für Barclay wäre es das passende Ende seiner College-Karriere.

Für die Zeit danach hat er mittlerweile vorgesorgt. "Es gibt viele Dinge, die ich tun kann und mit denen ich glücklich werde", erklärt er. Nach seinem Abschluss möchte er Trainer werden. "Im Football oder Fußball?", frage ich ihn. Doch das ist ihm völlig egal, sagt er - und isst sein Truthahn-Sandwich. Samt saurer Gurke. Denn jetzt hat er Hunger. Auf mehr.

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