MLB

Dead man walking

Von Jan-Hendrik Böhmer
Josh Hamilton
© Getty

München - Mit einer harmlosen Tätowierung hatte alles angefangen. In einem kleinen Tätowierstudio, mit jeder Menge Geld, noch mehr Zeit und den falschen Freunden.

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Fast vier Millionen US-Dollar hat Josh Hamilton seitdem mit Alkohol, Medikamenten, Kokain und Crack durchgebracht. Musste seinen Schwiegervater schicken, um bei Drogendealern geplatzte Schecks zu begleichen. Lebte auf der Straße, schlief nicht, duschte nicht. Wollte sich mehrmals umbringen. Flehte Gott an, ihn endlich zu erlösen.

Doch die Zeiten sind vorbei. Heute ist Hamilton clean und einer der besten und beliebtesten Spieler der Major League Baseball. Beim All-Star-Game (NASN LIVE in der Nacht zu Mittwoch ab 1.30 Uhr) steht er in der Startformation und war Favorit beim Home Run Derby.

Gewonnen hat er es dann zwar doch nicht, er verlor das Finale gegen Minnesotas Justin Morneau mit 3-5. Aber in der ersten Runde überbot er den bisherigen Rekord beim Home Run Derby um sage und schreibe vier Homers und schraubte die Bestmarke damit auf 28.

Davon kommt man nicht zurück

Unglaublich. So beschreibt Jon Daniels Hamiltons gesamten Werdegang. "Es ist die unglaublichste Geschichte, die ich jemals gehört habe", sagt der General Manager der Texas Rangers, bei denen Hamilton heute unter Vertrag steht. "Josh war Crack-süchtig und lebte auf der Straße: Davon kommt man nicht einfach so zurück." Doch Hamilton kam.

"Seine Geschichte ist wirklich einmalig", findet auch der ehemalige Manager der New York Mets und aktuelle ESPN-Experte Steve Phillips im Gespräch mit SPOX.com. "Vier Jahre musste er mit privaten Problemen aussetzen - und jetzt kommt er als Superstar zurück."

Million Dollar Baby

Rückblick: 1999 gilt Hamilton als größtes Talent im Baseball, als Musterathlet. Als jemand, der sich weigert zu fluchen oder auch nur einen Tropfen Alkohol anzurühren. Als jemand mit starkem Wurfarm und einem noch besseren Schlag. "Er spielt besser Baseball als jeder andere Spieler, den ich in High School oder College jemals gesehen habe", sagt sein Trainer John Thomas damals. Hamilton wird mit Auszeichnungen überhäuft, gilt als perfekt.

Vier Millionen US-Dollar ist den Tampa Bay Devil Rays diese Perfektion wert, als sie Hamilton im zarten Alter von 17 Jahren direkt aus der High School verpflichten und ihn zum behutsamen Karriere-Aufbau in eines ihrer Nachwuchs-Teams integrieren. Bei so genannten Farm Teams wie den Princeton Devil Rays oder den Hudson Valley Renegades soll der zurückhaltende Junge aus Raleigh, North Carolina zum Superstar reifen.

Verhängnisvoller Unfall

Aber ein folgenschwerer Autounfall wirft 2001 das bis dato geregelte und wohl behütete Leben des Josh Hamilton aus der Bahn. Seine Eltern, die ihn bisher immer begleitet haben, werden schwer verletzt und müssen fortan zu Hause bleiben.

Er selbst scheint erst keinen Kratzer abbekommen zu haben, doch der Schein trügt. Immer wieder klagt er über quälende Rückenschmerzen, kann kaum noch Spiele bestreiten, trifft nur noch selten den Ball und fliegt wenig später aus dem Team.

"Da habe ich angefangen, in einem Tätowierstudio abzuhängen", erklärt Hamilton. "An manchen Tagen saß ich einfach acht Stunden da und habe mir zwei oder drei Tattoos nacheinander verpassen lassen. Was ich mir dabei gedacht habe, weiß ich wirklich nicht."

Mittlerweile würde er sich seine insgesamt 26 Tätowierungen am liebsten entfernen lassen. Denn die Teufelsfratzen auf seiner Haut erinnern Hamilton an eine dunkle Zeit. Eine Zeit, die ihn fast das Leben gekostet hätte, seine Karriere sowieso.

Strip-Klubs und Kokain

Denn beim Tätowieren lernt er die falschen Leute kennen. Der ehemals abstinente Sportfanatiker geht aus purer Langeweile plötzlich in Strip-Klubs, fängt an zu trinken und konsumiert Unmengen Kokain. Körperlich ist er schon lange wieder fit, doch immer wieder fällt er bei den Tampa Bay Devil Rays durch den Drogentest und bleibt so arbeitslos.

Als Hamilton im Frühling 2003 dann gar nicht mehr bei den Drogentests erscheint, wird er auf unbestimmte Zeit von der Liga suspendiert. Er zieht zurück nach Raleigh und irrt jeden Tag durch die Straßen, immer auf der Suche nach einem Dealer. Mehr als 20 Kilo nimmt er ab, wird abhängig von Crack und wacht morgens inmitten unbekannter Junkies in Wohnwagen oder auf der Ladefläche seines Pick-Ups auf.

Aus der Trance erwacht

Alle Geschichten aus dieser Zeit zu erzählen, würde vermutlich ein ganzes Buch füllen. Doch fragt man Hamilton selbst, dann gibt es einen Moment, der besonders heraussticht.

"Mir war auf dem Weg zu meinem Dealer das Benzin ausgegangen und ich lief zu Fuß weiter", erinnert sich der 27-Jährige in "ESPN The Magazine" an den Tag, als er auf dem Mittelstreifen einer Schnellstraße aus seiner Trance erwachte. "Ich stand so neben mir. Ich hatte das Bewusstsein verloren, aber mein Körper lief einfach weiter. Es war ein perfektes Beispiel für das, was ich zu dieser Zeit war: A dead man walking."

Die Freude am Spiel

Erst seine Großmutter kann ihn zur Vernunft bringen, als er eines Tages im Rausch bei ihr Unterschlupf sucht. "Du bringst dich um", wirft sie ihm am Frühstückstisch an den Kopf. "Du bringst jeden um, der dich liebt. Auch mich." Nur wenige Tage später nimmt Hamilton ein letztes Mal Drogen und weist sich anschließend selbst in eine Entziehungsklinik ein.

"Für mich hieß es: Werd' clean oder stirb", bringt es Hamilton auf den Punkt. Und diesmal hält er durch. Acht Monate bleibt er sauber, bevor er 2006 wieder in die MLB zurück darf.

Bei Tampa Bay aussortiert, geht es über die Chicago Cubs zu den Cincinnati Reds, wo er am 2. April 2007 (fast acht Jahre nach seinem Draft) sein MLB-Debüt gibt. "Das werde ich niemals vergessen", sagt Hamilton. "Als im ausverkauften Stadion jeder Aufstand und meinen Namen rief, als ich meine Familie auf der Tribüne weinen sah, da musste ich mich wirklich zusammenreißen, um nicht mitten auf dem Platz zusammenzubrechen."

Und genau das tut er. Binnen kürzester Zeit bringt er seinen Körper wieder in Form und avanciert in Cincinnati zum Top-Spieler. Nach einer vielversprechenden Saison wechselt er im Tausch für Pitcher Edinson Volquez dann nach Texas, wo er sich sofort zu Hause fühlt. "Es ist fast wie in der High School", sagt er. "Die Freude am Spiel ist wieder zurück."