"Viele waren froh, mich loszuwerden"

Von Interview: Martin Gödderz
Für Jens Voigt geht der Blick nach dem Karriereende weg vom Radsport
© getty

Fast 20 Jahre lang kämpfte und attackierte sich Jens Voigt durch die Radsportwelt. 2014 war Schluss für den mittlerweile 43-Jährigen. Doch der Oldie wählte einen turbulenten Schlussspurt. Ein Gespräch über den perfekten Abschied, geschenkte Straßenschilder, Gemeinsamkeiten mit Thomas Morgenstern und die Erleichterung im Fahrerlager nach dem Karriereende.

Cookie-Einstellungen

SPOX: Herr Voigt, der Stundenweltrekord ist fast zwei Monate her, wie lebt es sich seither als Radsport-Rentner?

Jens Voigt: Rente vermittelt ja immer den Eindruck, dass es ein bisschen ruhiger wird. Aber das ist gar nicht so. Es ist eher mehr als vorher.

SPOX: Inwiefern?

Voigt: Ich habe am Jahresanfang, als mein Rücktritt feststand, einen Fehler gemacht und gesagt: "Ja, das machen wir später, das machen wir im Herbst, das machen wir nach der Saison." Jetzt habe ich fast jeden Tag eine Veranstaltung. Den einen Tag bin ich noch bei einem Rennen in Berlin, am anderen Tag fliege ich zu einer Charity-Veranstaltung nach Luxemburg. Ich habe also mehr Termine als vorher.

SPOX: Zuckt es noch in den Beinen?

Voigt: Ich interessiere mich ehrlich gesagt gar nicht mehr für mein Fahrrad, ich gucke das nicht mehr an. Ich weiß nicht mal, ob da noch Luft drin ist. Vor ein paar Tagen bei der Radrundfahrt um den Berliner Fernsehturm habe ich den österreichischen Skispringer Thomas Morgenstern getroffen. Thomas meinte auch, dass seine Skier irgendwo in der Ecke stünden und er sie nicht mehr ausgepackt oder angeguckt hätte. Genauso geht es mir mit dem Rad. Ich fahre Fahrrad nur noch, wenn ich muss.

SPOX: Probieren Sie nun andere Sportarten aus oder ist erst einmal komplett Pause?

Voigt: Ich versuche mich hin und wieder mal zum Laufen durchzuringen, aber auch das ist schwierig. Ich muss mich momentan richtig antreiben, um rauszugehen. Im Moment fehlt es mir gar nicht, aber das ist nach 33 Jahren Sport und 18 Jahren als Profi wohl normal. Der Körper giert nach einer Pause. Ich habe meinem Körper und mir selber auch versprochen, dass es das letzte Jahr ist und ich danach Schluss mache. Der Körper sagt: "18 Jahre hab ich dir treu zur Seite gestanden, jetzt brauche ich eine Auszeit!"

SPOX: Aber den großen Urlaub gibt es dieses Jahr wohl nicht mehr, oder?

Voigt: Wir schauen mal, ob es überhaupt 2015 klappt. Ich bleibe dem Radsport erhalten. Es ist nicht so, dass ich einfach verschwinden und dann von meinem Vermögen leben kann. Im Gegensatz zur teilweise vorherrschenden Meinung bin ich kein Millionär. Ich wurde zwar gut bezahlt und bin damit auch glücklich, aber ich ziehe sechs Kinder groß und lebe nicht in Monaco oder der Schweiz, sondern zahle meine Steuern in Deutschland. Von daher liegt mein Fokus weiter darauf einen anständigen Job zu haben und Geld zu verdienen.

SPOX: Wie sollte der neue Job aussehen?

Voigt: Es ist gut möglich, dass ich bei der Tour für Eurosport, NBC oder die ARD dabei bin. Meine Mannschaft würde mich sicher auch gerne dabei haben, also werde ich im Sommer wieder nicht zu Hause sein. Glücklicherweise muss ich vorher keine Tour de Suisse fahren. Vielleicht können wir stattdessen mit den Kindern einen großen Urlaub machen. Das ist definitiv ein Projekt, was wir nächstes Jahr planen.

SPOX: 2013 standen Sie bereits vor dem Rücktritt. Wie kam es dazu, dass Sie doch nochmal ein Jahr in den Sattel gestiegen sind?

Voigt: Das lag vor allem an den letzten beiden Rennen 2013. Weil die Tour ganz gut lief und es auch bei der US-Tour in Colorado glattging, dachte ich: "Komm Jens, ein Jahr geht noch!"

SPOX: Wie hat die Familie reagiert?

Voigt: Meine Frau kennt mich ja mittlerweile und weiß, wie wichtig mir das ist. Sie hat mir die Freiheit gelassen zu entscheiden, wann es genug ist. Ihr war klar, dass ich unglücklich sein würde, wenn ich zu früh aufhöre.

SPOX: Es war schnell klar, dass Sie dieses Jahr Ihre letzte Tour fahren würden. Mit Ihrer 17. Teilnahme stellten Sie den Rekord von Stuart O'Grady und George Hincapie ein. Was läuft da im Kopf für ein Film ab, wenn es ein letztes Mal über die Champs-Elysees geht?

Voigt: Für Gedanken hatte ich während des Rennens keine Zeit, eher morgens und als die Etappe losging. In Paris heißt es nur: Vollgas geben. Es ist nicht so leicht, das zu genießen, zumal wir mit Haimar Zubeldia noch einen guten Fahrer in der Gesamtwertung hatten, den wir schützen mussten. Das Hinrollen war wesentlich entspannter und nach dem Rennen saß ich noch einmal auf der Bande und habe es sacken lassen. Man ist dann natürlich schon glücklich, dass das Leiden ein Ende hat. Andererseits bist du traurig, weil du nie wieder vor Millionen Menschen live auf einer der bekanntesten Straßen der Welt fahren wirst. Da ist ganz klar auch ein bisschen Wehmut dabei gewesen.

SPOX: Gerade die französischen Fans haben Sie als unermüdlichen Ausreißer spätestens seit der Zeit bei Credit Agricole ins Herz geschlossen. Gab es während der letzten Tour besondere Fan-Momente?

Voigt: Die gab es. Teilweise waren die Fans wahnsinnig kreativ. Zum Beispiel hat mir eine große Gruppe französischer Fans ein traditionelles Pariser Straßenschild geschenkt, so eine größere Metallplatte. Da haben sie dann meinen Namen draufdrucken lassen. Andere Fans haben eine riesige Fotocollage gemacht mit einigen Erfolgen und Bildern. Das Ding war drei Meter hoch und zwei Meter breit. Das sind Momente, in denen man merkt: "Die machen das alles nur für mich!" Ein warmes Gefühl.

SPOX: Wie hat das Fahrerlager auf Ihr Karriereende reagiert? Haben die Sprinter-Teams erleichtert aufgeatmet, dass der nervige Ausreißer jetzt zum letzten Mal dabei ist?

Voigt: Ich hatte schon den Eindruck, dass viele einfach froh waren, mich loszuwerden - mit der ganzen Attackiererei und dem Stressmachen. Viele Leute haben es aber einfach nicht geglaubt. Die haben gesagt: "Ich glaube erst, dass du aufhörst, wenn du keine Lizenz mehr hast."

SPOX: Und jetzt ist die Lizenz endgültig weg?

Voigt: Ich hatte ja drei oder vier Lizenzen. Einige davon habe ich als Andenken verschenkt, aber irgendwo müsste zuhause noch eine rumliegen. Aber wie gesagt: Der Radsport ist gerade weit weg für mich.

SPOX: Hand aufs Herz: Gab es doch noch einen kurzen Moment, in dem Sie über eine Fortsetzung nachgedacht haben?

Voigt: Mir war ja eigentlich klar, dass ich aufhöre, auch wenn das meine Frau und meine Kollegen nicht so ganz geglaubt haben. Doch plötzlich hätte ich dann doch noch ein Jahr dran gehängt. Aber ich glaube, dann hätten die anderen Fahrer zusammengelegt und Geld bezahlt, dass der olle Voigt endlich verschwindet.

SPOX: Gab es im Fahrerfeld einen Seniorenbonus für Sie im letzten Jahr der Karriere?

Voigt: Nein, gar nicht. Es gab kurzfristig mal so ein kleines Projekt der Kollegen am Abend vor der Abschlussetappe der Tour de France. Sie haben sich überlegt, den alten Jens erst einmal alleine vorne vor dem Feld fahren zu lassen. Da habe ich aber direkt gesagt: "Hey Leute, das kriegt ihr nie im Leben organisiert! Ihr kriegt keine 150 Fahrer darauf eingeschworen, mir eine Runde zu schenken."

SPOX: Was ist dann passiert?

Voigt: Meine Kollegen haben mit allen Fahrern geredet. Manche Teams haben für eine Runde zugestimmt, andere wollten aber auf jeden Fall angreifen. Letztlich hat es in Paris ja auch ein Vicenzo Nibali kaum geschafft mit seinem gelben Trikot das Tempo mitzugehen. Da wollten ja alle attackieren wie die Guppys. Es wurde nichts geschenkt, sowas gibt es nicht mehr. Aber das ist auch in Ordnung so, ich habe ja schließlich mein Leben lang nichts geschenkt gekriegt. Mit so einem Altersgeschenk wäre ich mir wie ein Trottel vorgekommen.

Seite 1: Voigt über Fan-Geschenke und Erleichterung im Fahrerlager

Seite 2: Voigt über den Stundenweltrekord und den perfekten Abschied

Artikel und Videos zum Thema