Sind Taktikanalysen nur heiße Luft?

Von David Theis
Pep Guardiola gilt als einer der besten Taktiker der Welt
© getty

Die Taktik dominiert den modernen Fußball. Konzept- und so genannte Laptoptrainer werden immer gefragter. Mit der Veränderung des Spiels nimmt gleichzeitig auch die Komplexität der Sprache im Sportjournalismus zu. Doch ist dieser Ansatz der richtige Weg? Oder verliert der Fußball so womöglich sogar seine Wurzeln aus den Augen? Ein Kommentar von Page-2-Autor David Theis.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

In den letzten Jahren scheint der Fußball immer komplexer zu werden. So genannte Konzepttrainer wie Pep Guardiola, Jose Mourinho oder Thomas Tuchel werden längst im gleichen Maße für ihre Strategien gefeiert wie Ronaldo oder Neymar für ihre Übersteiger.

Ein Großteil der etablierten Sportteile und -magazine scheint falschen Neunern und abkippenden Sechsern jedoch noch skeptisch gegenüberzustehen - die Disziplin der Taktikanalyse findet bislang hauptsächlich in darauf spezialisierten Blogs statt. Kürzlich holte gar der Kicker zum Rundumschlag gegen die vermeintliche Intellektualisierung des Spiels aus.

Die These: Komplexer werde nur die Sprache selbsternannter Experten - der Fußball jedoch sei noch immer derselbe.

"Elitär" vs. Volkssport

Komplizierte Fragestellungen erfordern komplizierte Antworten, so sollte man meinen. Doch ist der Fußball wirklich so viel taktischer als er es noch vor 25 Jahren war? Hat der klassische Kopfballstürmer plötzlich ausgedient, weil es mehr als nur ein Wort für ihn gibt? Ist Jürgen Klopps Gegenpressing nicht eigentlich Kick-and-rush? Machen junge Sportjournalisten und Trainer die Dinge absichtlich komplizierter, als sie sind?

Für Frank Lußem vom Kicker jedenfalls ist der Versuch, das Geschehen auf dem Platz zu erklären, vor allen Dingen heiße Luft. So wirft er zum Beispiel dem beliebtem Taktikportal spielverlagerung.de Geistlosigkeit und mangelnde Nähe zum Sport vor - schließlich seien die Herren Fußballanalysten ja nie im Stadion anzutreffen.

Ihre Sprache, wie auch die von Thomas Tuchel oder Jürgen Klopp, nennt er "elitär". Der Fußball, so Lußem weiter, sei ein Volkssport und das (breite) Volk müsse ihn letztendlich auch verstehen können.

Worte sind zum Differenzieren da

Dass sich die Abläufe auf modernen Fußballplätzen von denen vergangener Jahrzehnte unterscheiden, liegt auf der Hand. Profis wie Mats Hummels, Lionel Messi und andere erfüllen deutlich vielschichtigere Anforderungsprofile als Spieler ähnlicher Positionen das noch vor einiger Zeit taten. Auch lässt sich nicht von besagter Hand weisen, dass der Fußball des Jahres 2016 deutlich höhere Anforderungen an das (kollektive) Positionsspiel einer Mannschaft stellt.

Darüber hinaus bedienen sich Fußballtrainer heute ebenso einer Vielzahl neuer, datengetriebener Analysemöglichkeiten. Genau so wie der Kicker nicht mehr nur in Abonnements, sondern auch in Unique Visitors, Shares und Likes denkt oder Vertriebsleiter die Leistung ihres Außendienstes via SAP kontrollieren.

Dass aus einem breiter werdenden Wissen über Detailaspekte des Spiels der (Trainer-)Wunsch erwächst, mehr solcher Details bewusst zu beeinflussen, ist so verständlich wie der (Journalisten-)Wille, die so entstehenden Vorgänge auch zu begreifen und zu erklären.

Dass die Benennung des langen Lulatschs im Strafraum dabei etwa der Frage, von wo oder wohin er wann köpft, angepasst wird, lässt sich bei aller Liebe zur Einfachheit eben nicht immer vermeiden: Sprache entwickelt sich mit den Dingen, die sie beschreibt. Sicherlich muss man das alles nicht mögen, es zu leugnen dürfte jedoch so aussichtslos wie der Versuch sein, Fachleuten die Verwendung von Fachbegriffen verbieten.

Die Sprache der Elite?

Zugegeben, wer nach dem Genuss eines von Thurn und Taxis-Kommentars bei "Spielverlagerung" vorbeischaut oder den technisch anmutenden Worten von Thomas Tuchel lauscht, wird sich wahrscheinlich in einem Science-Fiction Film wähnen. Das kann überfordern. Auch schaffen selbstverständlich weder Taktik- noch Statistikanalyse absolute Wahrheiten (oder erheben den Anspruch darauf).

Doch steht deshalb die wundervoll blumige Sprache des altehrwürdigen Linzers für einen Fußball des Volkes uns der sich an der Sprache europäischer Spitzentrainer anlehnende, auf Details und ihren möglichen Zusammenhang fokussierte Duktus der Taktikexperten dagegen für eine Elite, der der gemeine Fan zu blöde ist? Mitnichten.

Was wirklich elitär ist...

Viel eher trägt dieser neue Teilbereich der Fußballberichterstattung den Veränderungen des Spiels selbst Rechnung und ist zugleich Ausdruck einer nie da gewesenen Vielfalt, den Fußball zu betrachten. Dass der deutsche Sportjournalismus, ob in Blog- oder Magazinform, dem Spiel immer wieder neue Blickwinkel abgewinnen kann, ist letzten Endes eine Entwicklung, von der alle profitieren, die es schätzen.

Hier stößt meiner Ansicht nach der zurecht umstrittene Begriff des "Volk(sport)es" an seine Grenzen. Denn der Fußball wie auch eine Gesellschaft funktionieren immer dann am besten, wenn sie möglichst vielen Bedürfnissen und Interessen Raum bieten.

Ob der geneigte Fan am Ende des Tages zur Leidensgeschichte eines kleinen Amateurklubs aus Nordost-England, klassischen Spielberichten, der sperrigen Analyse tuchel'scher Spielzüge oder einer Stadionwurst mit Senf greift, bleibt dem Geschmack des Einzelnen überlassen. Ich persönliche denke ja: Am besten alles zugleich. Und elitär ist einzig der Versuch, anderen vorzuschreiben, wie sie den Fußball zu sehen oder zu beschreiben haben.

Alle Artikel von Page 2

Artikel und Videos zum Thema