Der letzte Raptor?

Von Sebastian Hahn
Calvin Johnson hat in diesem Jahr sein Karriereende verkündet
© getty

Calvin Johnson hat die NFL mit seinem Rücktritt im März überrascht. Mit 30 Jahren tritt Megatron damit nicht nur ohne Ring ab, sondern beendet auch seine Rekordjagd. Zeitgleich hinterlässt er eine Lücke, die die anderen Wide Receiver der Liga so schnell nicht schließen werden.

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Raptoren sind so etwas wie ein Novum in der Erdgeschichte. Die beinahe menschengroßen Dinosaurier galten vor Millionen von Jahren als die deutlich intelligentesten Lebewesen auf der Erde. Sie waren schnell, klug und konnten sich geschickt miteinander verständigen. Kurz: Sie waren in einem frühen Entwicklungsstadium der Erde die vielleicht effizientesten Killermaschinen aller Zeiten, bevor ein Meteoriteneinschlag ihre Überlegenheit schlagartig beendete.

Calvin Johnson war und ist irgendwie beides. Ein Novum und eine Killermaschine - allerdings auf dem Football-Feld. Denn mit 1,96 Metern Körpergröße, 109 Kilogramm Körpergewicht und unfassbar sicheren Händen wirkte der heute 30-Jährige schon zu Beginn seiner Karriere wie der feuchte Wide-Receiver-Traum jedes General Managers in der NFL. Nach neun Jahren machte Megatron Anfang März allerdings überraschend Schluss. Genau wie die Raptoren stirbt diese seltene Wide-Receiver-Art also von heute auf morgen aus - oder vielleicht doch nicht?

Ansage in geliehenen Schuhen

Zunächst gestatten wir uns einen kleinen Time-Warp ins Jahr 2007. Johnson hatte gerade bekanntgegeben, dass er sein letztes Jahr an der Georgia Tech zugunsten einer NFL-Karriere nicht absolvieren wird und sich stattdessen für den Draft anmeldet. Dennoch waren einige Scouts skeptisch, ob der als potentieller Nummer-1-Pick eingestufte Johnson wirklich eine große Profi-Karriere vor sich haben würde. Der Grund: Der Youngster war plötzlich sechs Kilo schwerer als gedacht.

Johnson spielte die Sorge um mögliche Gewichtsprobleme runter: "Ich habe die ganze Saison schon mit diesem Gewicht gespielt, macht euch keine Sorgen." Im Anschluss konterte Megatron dann auf seine eigene Art und lief beim 40-Yard-Dash der NFL-Combine überragende 4,35 Sekunden - in geliehenen Schuhen. Kein anderer Spieler mit einer Mindestgröße von 1,96 Metern hat bis heute eine Zeit unter 4,4 Sekunden geschafft. Schnell waren alle Sorgen zerstreut, viele Scouts trauten Johnson eine ähnliche Karriere wie Wideout-Legende Randy Moss zu.

Raiders mit folgenschwerem Fehler

Im Draft ging Johnson dann aber doch erst an zweiter Stelle über die Theke. Die Oakland Raiders schnappten sich an erster Stelle Quarterback JaMarcus Russell, der sich schon vor seinem ersten NFL-Spiel in Vertragsstreitigkeiten verstrickte und die Liga bereits 2010 wegen Gewichtsproblemen wieder verließ. Während sich die QB-Hoffnungen der Raiders also noch im Holdout befanden, verzückte Johnson die Liga bei seinem NFL-Debüt mit 70 Receiving Yards und seinem ersten Touchdown-Catch und führte die Lions zu einem erfolgreichen Saisonauftakt - ausgerechnet gegen Oakland. Im weiteren Saisonverlauf sollten noch drei weitere Catches in der Endzone folgen, am Ende standen 756 Receiving Yards beim Lions-Wideout zu Buche.

Johnson verbesserte sich aber schon in seiner Sophomore-Saison auf 1331 Receiving Yards, obwohl seine 0-16-Lions mit Quarterbacks wie Dan Orlovsky, Jon Kitna oder Daunte Culpepper under Center agierten. Folgerichtig entwickelte sich Megatron, wie ihn Receiver-Kollege Roy Williams wegen seiner großen Hände taufte, zu einem wichtigen Baustein im Rebuild der Lions - noch fehlte ihm aber ein entsprechender Quarterback an seiner Seite. Den sollte er im Draft 2009 bekommen als Matthew Stafford an erster Stelle von den Verantwortlichen in "Motown" gezogen wurde.

Flirten mit den 2000-Yards

Der Erfolg stellte sich aber auch in dieser Konstellation verständlicherweise nicht sofort ein. Gegen die Redskins feierten die Lions nach 19 Niederlagen in Serie zwar mal wieder einen Erfolg, die Playoffs blieben für die Youngster aus Detroit aber in weiter Ferne. 2010 verstärkte mit Ndamukong Suh zwar der nächste hohe Pick die Defense, Stafford hatte aber mit Schulterproblemen zu kämpfen und musste seine Saison nach nur drei Starts mit einem Schlüsselbeinbruch beenden. Individuell knackte Johnson aber zum zweiten Mal die 1000-Yard-Marke und stellte sein Career High von zwölf Touchdowns ein, folgerichtig wurde er zum ersten Mal in den Pro Bowl gewählt. Dies sollte zur Gewohnheit werden: Im weiteren Verlauf seiner Karriere schaffte es Johnson immer in das Spiel der Besten und knackte auch jedesmal die 1000-Yard-Marke.

Mit der Rückkehr von Stafford ging es im folgenden Jahr für Johnson weiter steil nach oben. Megatron führte die Liga mit 1681 Receiving Yards an und sorgte mit seinen 16 Touchdowns dafür, dass die Lions zum ersten Mal seit 1999 wieder in der Postseason dabei waren. Johnson knackte trotz der deutlichen 28:45-Niederlage mit 211 Receiving Yards den Playoff-Rekord der Lions, hatte aber, wie so oft in seiner Karriere, kaum Hilfe in der Offense.

Viele Rekorde, keine Erfolge

Ein Umstand, der ihm allerdings auch einen Eintrag in die NFL-Geschichtsbücher bescherte. Ohne eine vernünftige Alternative im Passing Game suchte Stafford in der darauffolgenden Saison fast ausschließlich "Megatron", der in der zweiten Saisonhälfte so richtig heiß lief und zwischenzeitlich acht Spiele mit 125 Yards oder mehr auflegte, sein Saisonschnitt lag bei überragenden 122,8 Receiving Yards - ein Novum in der Super-Bowl-Ära. Dies alles wurde obendrein von seinen 1964 Receiving Yards getoppt, mit denen er den vorherigen Saisonrekord von Jerry Rice um über 100 Yards übertrumpfte und zugleich die 2000-Yards-Marke nur haarscharf verpasste. Die Playoffs waren in "Motown" trotzdem nicht drin - Detroit gewann trotz der Rekordleistungen gerade mal vier Spiele.

Im Anschluss konnte Megatron seine Produktion nicht mehr ganz so aufrechterhalten und kam nie wieder über 1500 Yards. Auch wenn er die Football-Welt vereinzelt noch mit Highlights wie beispielweise seinen 329 Receiving Yards gegen die Dallas Cowboys fütterte, machen ihm kleinere Verletzungen immer wieder Probleme, vor allem in der Saison 2014 musste er wegen einer Knöchelverletzung immer wieder aussetzen. Trotzdem erreichten die Lions zum zweiten Mal in seiner Karriere die Playoffs, verlorenaufgrund einer kontroversen Referee-Entscheidung im vierten Viertel aber erneut in der Wild-Card-Round. Die Unparteiischen hatten eine Pass-Inteference-Flag im Duell mit den Cowboys unerklärlicherweise in letzter Sekunde zurückgezogen.

Megatrons Erbe

Im Anschluss an Week 17 der vergangenen Saison wurden immer wieder Gerüchte gestreut, dass Johnson einen Rücktritt in Erwägung ziehen soll. Anfang März bestätigte der Wide Receiver diese tatsächlich und wurde so nach Running Back Barry Sanders zum zweiten Lions-Spieler, der überraschend früh seine Laufbahn beendete. Besitzer Rod Wood macht dem 30-Jährigen aber keinen Vorwurf: "Calvin hat uns in diesen Prozess einbezogen und uns frühzeitig seine Entscheidung mitgeteilt, sodass wir bereit waren, für die Free Agency und den Draft zu planen."

Ex-Bengals-Wideout Marvin Jones soll die Lücke auf der Wide-Receiver-Position füllen, wahrscheinlich legen die Lions auch im Draft nach. Einen Spieler wie Johnson zu finden, wird aber enorm schwer. Denn selbst in der NFL findet sich aktuell kein ein Spieler, der die Statur von Megatro" erreicht. Spieler wie Brandon Marshall, Julio Jones und Dez Bryant kommen zwar annähernd an die körperlichen Werte heran, sind aber allesamt auch etwas schmächtiger als Megatron. Marshall scheint mit 32 Jahren zu alt für das Erbe des Lions-Stars, Bryant ist deutlich langsamer, und das obwohl er zusätzlich auch noch einige Zentimeter kleiner ist als Johnson. Am ehesten kommt Jones also an Johnson heran. Der Wide Receiver der Atlanta Falcons führte die Liga 2015 mit 1871 Receiving Yards an und kommt auch mit einer Dash-Zeit von 4,39 Sekunden an die Top-Werte Johnsons heran, allerdings hatte er mit Matt Ryan bisher auch immer einen starken Quarterback an seiner Seite. Eine Situation, in der Johnson bis zur Ankunft von Stafford zu Beginn seiner Karriere nicht war.

Schlummernder Klon in Tampa Bay?

Körperlich passt wohl am ehesten Youngster Mike Evans in die großen Schuhe von Johnson. Der Bucs-Wideout ist genauso groß wie Megatron und nur etwas leichter. Allerdings war seine Dash-Zeit von 4,55 Sekunden deutlich langsamer als Johnsons und seine Flutschfinger sind mit den Pranken Johnsons bislang nicht zu vergleichen. 2015 ließ Evans gleich 15 fangbare Pässe von Quarterback Jameis Winston fallen - die zweitmeisten der Liga.

Dennoch hat Evans sicherlich Potential, kam er in seinen ersten beiden Saisons auf ähnliche Werte wie Johnson bei den Receiving Yards (Evans: 2257, Johnson: 2087) und den Touchdowns (15 zu 16). Und: Auch er musste zu Beginn seiner Karriere auf die Pässe von Spielern wie Josh McCown oder Mike Glennon vertrauen. Um in Johnsons Sphären vorzudringen, wird sich Evans aber noch gehörig strecken müssen und die eigenen Marken stetig weiter verbessern.

Rücktritt vom Rücktritt?

Johnson wird sich die Diskussion um seine Thronfolge entspannt vom Sofa aus anschauen können. Geht es nach Bengals-Cornerback Adam "Pacman" Jones, wird Megatron dem Spielfeld allerdings nicht lange fern bleiben: "Er wird drei Monate zuhause sitzen und sich irgendwann fragen, ob er es nicht wieder versuchen soll. Er war noch nie solange ohne Football. Ich gehe davon aus, dass er wieder zurückkommen wird."

Der 30-Jährige wäre nicht der erste Star, der einen Rücktritt vom Rücktritt anstreben würde. Auch Brett Favre verabschiedete sich zunächst 2008 vom professionellen Football, bevor er dann noch vor Beginn der neuen Saison diese Entscheidung revidierte. Johnson dürfte sich dies allerdings zweimal überlegen. Ein Lions-Comeback scheint aufgrund der aktuellen Situation der Franchise wenig erstrebenswert, zumal auch sein Körper das ständige Aufreiben gegen die Defense irgendwann nicht mehr mitmachen wird. Ein Rücktritt erschien für Johnson durchaus logisch. An Jerry Rice' Receiving-Yards-Rekord wäre er wohl erst mit Anfang 40 herangekommen - und das obwohl er der schnellste Spieler mit 10.000 Receiving Yards war.

Dennoch wird der Superstar der Liga fehlen, denn sein Spielstil prägte nicht nur die letzten Jahre, sondern könnte für immer einzigartig bleiben. NFL-Fans sollten darauf hoffen, dass sich irgendwann einen Nachfolger findet - und dass wir auf diesen keine 65 Millionen Jahre warten müssen...

Johnsons Karriere-Statistiken im Überblick

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