Der König ist tot, lang lebe der König

Von 90PLUS
Claudio Ranieri hat seine Kritiker mit Leicester Lügen gestraft
© getty

Leicester FC mischt als großes Überraschungsteam die Premier League auf. Dabei traute den Foxes und ihrem neuen Trainer eigentlich so niemand wirklich etwas zu. Ein paar gute Griffe im Sommer und ein verändertes System machen's möglich.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Was haben wir Nigel Pearson in einem unserer ersten Blogs für "Page 2" gefeiert: Wie der Aufstiegstrainer sensationell Leicester City in der abgelaufenen Saison gerettet hatte, nachdem das Team über nahezu die komplette Spielzeit auf einem Abstiegsplatz stand. Nach zwischenzeitlich 13 aufeinanderfolgenden Spielen ohne Sieg, lobten wir die Vereinsführung für das Streben nach Kontinuität und den König des "King Power Stadiums" für sein Kämpferherz und Durchhaltevermögen.

Gleichzeitig sorgte der 53-jährige Trainer jedoch unter anderem mit seinen oftmals schroffen Interviews und Pressekonferenzen für Aufregung - etwas, das ihm noch zum Verhängnis werden sollte. Am 30. Juni feuerte Leicester City den Übungsleiter, der noch im April wegen der fulminanten Aufholjagd der Foxes zum Trainer des Monats gekürt worden war. Das Management kommunizierte etwas von "verschiedenen Sichtweisen" nach Außen, viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Verein genug von seinen Entgleisungen hatte.

Darüber hinaus dürfte der Skandal um Sohn James, der durch rassistische Äußerungen auf einem Sex-Video bei der Nichtabstiegsfeier in Thailand für Entsetzen sorgte, nicht ganz folgenlos gewesen sein. Unabhängig von der Entscheidung selbst wirkte die Demission vier Wochen nach Saisonende jedoch wenig professionell, stand der Verein zu Beginn der Vorbereitung schließlich ohne Trainer da.

Der italienische Weltenbummler

Mindestens genauso überraschend wie die Entlassung von Pearson schien die Wahl seines Nachfolgers. Die Verantwortlichen zauberten keinen Geringeren als Claudio Ranieri aus dem Hut. Der Italiener coachte in seiner langen Karriere Giganten wie Juventus Turin, Atletico Madrid oder den glorreichen AC Florenz der Spätneunziger. Nun sollte der Weltenbummler, der in den letzten sechs Jahren vier Klubs und eine Nationalmannschaft trainierte, die Zügel bei den Foxes in der Hand halten, nachdem Pearson über vier Jahre im King Power Stadium an der Seitenlinie stand.

Ranieri hatte in seiner Karriere bereits zuvor in der Premier League gearbeitet. Von 2000 bis 2004 leitete er die Geschicke des FC Chelsea, bevor er von dem ambitionierten Neueigentümer Roman Abramowitsch durch einen gewissen Jose Mourinho ersetzt wurde. Die englischen Gazetten hielten jedenfalls wenig von der Verpflichtung, der Tenor lautete weitestgehend "uninspiriert".

Um das Image des 63-Jährigen stand es ohnehin nicht zum Besten, da sein letztes Engagement als Nationaltrainer Griechenlands einem Fiasko glich, welches gebührend mit einer Heimniederlage gegen die Färöer-Inseln abgeschlossen wurde. Auch bei den Fans stieß die Wahl des Nachfolgers vom beliebten Pearson auf Skepsis, viele hatten sich den ebenfalls gehandelten Martin O'Neill gewünscht. Mit all diesen negativen Begleiterscheinungen nahm Ranieri am 13. Juli also seine Arbeit auf.

Shoppingzeit

Der Kader, welcher seine Ligatauglichkeit, zumindest individuell, bisher nur bedingt nachweisen konnte, sollte an allen Ecken und Enden verbessert werden. Auf der Suche nach solchen Verstärkungen blickten die Verantwortlichen bereits früh in der Transferperiode auf die Bundesliga. Christian Fuchs wechselte ablösefrei von Schalke 04 nach Leicester, wenig später folgte Shinji Okazaki von Mainz 05 für stolze 11 Millionen Ablöse. Ebenso wurde der bisher ausgeliehene Robert Huth, der mit starken Leistungen in der Rückrunde ein absoluter Garant für den Klassenerhalt gewesen war, fest verpflichtet, .

Im August waren die Füchse (den englischen TV-Verträgen sei Dank) weiter auf dem Transfermarkt aktiv und verpflichteten Mittelfeldspieler N'Golo Kanté (SC Caen, 9 Millionen) und Abwehrmann Yohan Benalouane (Atalanta Bergamo, 7 Millionen). Weitere Coups wurden in den nächsten Wochen gelandet, als man erst den Hamburger SV und Schalke 04 im Buhlen um den Kapitän der Schweizer Nationalmannschaft Gökhan Inler ausstechen konnte und am Deadline Day auch noch Nathan Dyer von Ligakonkurrent Swansea City auslieh.

Vardy und Co. weiter an Bord

Darüber hinaus konnte der komplette Stamm des Teams, welcher maßgeblich für die rettenden 22 Punkte aus den letzten zehn Spielen verantwortlich war, gehalten werden. Vor allem um den englischen Jungnationalstürmer James Vardy wurde heftig geworben, der Angreifer schwor dem Klub zur Freude der Fans jedoch die Treue und blieb (mindestens) eine weitere Saison.

Den einzig nennenswerten Abgang stellte der Abschied von Esteban Cambiasso dar. Der Routinier und vereinsinterne Spieler der vergangenen Saison lehnte ein neues Vertragsangebot ab, um noch einmal Champions-League-Fußball mit Olympiakos Piräus erleben zu können. Durch den Erhalt des eingespielten Kerns und den zahlreichen qualitativen Ergänzungen bestand durchaus berechtigte Hoffnung, dass der Schwung aus der vergangenen Rückrunde auch unter dem neuen Coach mit in die neue Runde mitgenommen werden könnte.

Traumstart und ein neuer Star

Dieser Eindruck bestätigte sich direkt im ersten Saisonspiel. Am 8. August war der AFC Sunderland zum Premier-League-Auftakt zu Gast und wurde mit 4:2 geschlagen, wobei der Erfolg sogar noch deutlich höher hätte ausfallen müssen. Nach 25 Minuten führten die Foxes bereits mit 3:0 und nahmen infolgedessen den Fuß vom Gas, weshalb Sunderland noch ein wenig Ergebniskosmetik betreiben konnte.

Auch am zweiten Spieltag konnte das Auswärtsspiel bei West Ham United mit 2:1 gewonnen werden. Okazaki konnte seinen ersten Treffer auf der Insel feiern. Im Rampenlicht stand allerdings ein anderer Spieler. Rechtsaußen Riyad Mahrez hatte bereits nach zwei Spieltagen drei Treffer auf dem Konto, eins weniger als in der kompletten Vorsaison. Diese Ausbeute egalisierte der Algerier schon am nächsten Spieltag beim 1:1-Unentschieden gegen Tottenham, dem ersten größeren Prüfstein in der noch jungen Saison.

Nach einem weiteren Punktgewinn bei Aufsteiger Bournemouth konnte Ranieri beim 3:2-Heimsieg gegen Aston Villa nach dem Ende der Transferperiode auch auf alle Neuzugänge zurückgreifen. Überragender Mann war einmal mehr Mahrez, der zwei Tore vorbereitete. Dass in der Truppe auch ein großes Kämpferherz steckt, wurde beim Auswärtsspiel bei Stoke City bewiesen. Nach einem 0:2-Rückstand zur Halbzeit sorgten Vardy und (natürlich) Mahrez noch für einen Punktgewinn. Nach sechs Spielen stand somit immer noch keine Niederlage zu Buche - der Traumstart war geglückt.

Ahnliches Personal - andere Taktik

An welchen Schrauben hat Ranieri gedreht, um einen solchen Start hinzulegen? Überraschenderweise sind es gerade nicht die zahlreichen Neuzugänge, von denen sich bisher nur Okazaki und mit Abstrichen Inler nachhaltig für die Startelf empfehlen konnten. Der italienische Coach vollzog vielmehr eine Systemumstellung.

Pearson legte in der Hochphase des Abstiegskampfes den Fokus auf die Defensive und ließ ein 3-5-2 spielen, welches je nach Spielverlauf wahlweise zu einem 5-3-2 wurde. In dieser Spielzeit operiert Leicester zumeist in einem offensiven 4-4-2. Die defensive Viererkette begann in jedem Spiel mit dem gleichen Personal, die Außenverteidiger bilden der schnelle Richie De Laet und der gebürtige Hamburger Jeffrey Schlupp, während im Zentrum Robert Huth und Kapitän Wes Morgan für die Lufthoheit sorgen.

Im defensiven Mittelfeld ist Danny Drinkwater gesetzt, neben ihm musste Andy King zuletzt Neuzugang Inler weichen. Der Sturm wird von den flinken Angreifern Okazaki und Vardy gebildet, die durch ihren Aktionsradius die Außenbahnspieler Mahrez und Marc Albrighton unterstützen.

Für Ranieri ist diese Leistungsexplosion der "alten Garde" keine große Überraschung: "Ich habe bereits in der letzten Saison Spiele von dem Team gesehen und mir ist aufgefallen, dass Qualität vorhanden ist. Ich will, dass die Spieler weiter das machen, was sie gewohnt sind und mit der Zeit meine Ideen adaptieren."

Der kleine Rückschlag

Ein weiterer Test für diesen Prozess sollte am 7. Spieltag folgen, als der FC Arsenal im King Power Stadium gastierte. Der Maestro griff dafür zusätzlich in die (mentale) Trickkiste: "Wenn wir gegen Arsenal zu null spielen, dürfen meine Spieler eine Woche lang Pilze als Beilage essen."

Außer Pilze fand der Trainer in seiner Trickkiste aber noch etwas anderes, nämlich eine neue Formation. Gegen die Gunners liefen die Füchse erstmals in einem 4-2-3-1 auf, Okazaki rückte hierbei in die Rolle der falschen Neun hinter Vardy. Kanté (Ranieri: "Ein Typ wie Makelele!") feierte sein Startelfdebüt an der Seite von Drinkwater.

Auch diese Maßnahme konnte jedoch nicht verhindern, dass die Spieler von Leicester City in dieser Woche keine Pilze als Beilage bekamen, sondern stattdessen die erste Saisonniederlage verdauen mussten. Angetrieben von einem überragenden Alexis Sanchez vermöbelte Arsenal Ranieris Männer im eigenen Stadion mit 2:5.

Weiterbestehende Nachweispflicht?

Kritiker fühlten sich im Anschluss in ihrer These bestätigt, dass die Qualität der Mannschaft doch nicht so hoch sein könne, da man an in den ersten Spielen nur auf vermeintliche schwache bzw. (noch) nicht eingespielte Gegner traf. In der Tat stehen die besiegten Aston Villa und Sunderland momentan auf Abstiegsplätzen, allerdings rangiert West Ham als bisherige (Auswärts-) Überraschungsmannschaft der Saison auf dem sechsten Tabellenrang.

Darüber hinaus ist der Anspruch trotz des hervorragenden Starts nicht plötzlich so stark gewachsen, dass die Foxes nun mit Mannschaften wie dem FC Arsenal konkurrieren wollen. "Es geht um den Klassenerhalt. Unser Ziel ist es einen Punkt mehr als letzte Saison zu holen, weil wir uns dann verbessert haben", unterstrich Ranieri die Zielsetzung der Foxes.

Wer war noch gleich Pearson?

Der erfahrene Coach tut gut daran, sich nicht von den sich überschlagenden Medien neue Saisonziele zuschreiben zu lassen. Nach einem Auswärtserfolg in Norwich liegt LCFC auf dem fünften Tabellenplatz und hat bereits elf Zähler Abstand zu den Abstiegsplätzen. Auf den überragenden Saisonstart lässt sich umso mehr aufbauen, da erst am 14. Spieltag mit Manchester United wieder ein Spitzenteam auf Leicester City wartet.

Wenn bis dahin weiter gegen "nur ebenbürtige" (ein Hoch auf die Yellow Press!) Gegner gepunktet wird, sollte die ausgerufene Zielsetzung definitiv erreicht werden, was eine weitere Etablierung in der höchsten englischen Spielklasse zur Folge hätte. Und Nigel Pearson würde - wie so oft in diesem schnelllebigen Geschäft - in Vergessenheit geraten. Ganz nach dem Motto "Der König ist tot, lang lebe der König."

Leicester FC im Überblick