Die Mutter aller Niederlagen

Von Maximilian Schmeckel
Greg LeMond und Laurent Fignon duellierten sich bei der Tour de France 1989
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Akt eins: Mythos Alpe d'Huez

In strahlendem Sonnenschein kämpfte sich die Spitzengruppe um LeMond, Fignon und Delgado die Berge hinauf, während vorne die Ausreißer ihr Unwesen trieben. Die Menschenmassen, die aus heutiger Sicht wegen ihrer schrill-farbigen Achtziger-Jahre-Kleidung ein wenig bizarr anzusehen sind, säumten den Straßenrand und die Felsen über der Straße und jubelten den Granden zu Tausenden zu - eine Begeisterung in Quali- und Quantität, die es heute spätestens seit dem Armstrong-Schock nicht mehr gibt. Vorne zog der spätere Etappengewinner Theunisse seine Kreise, die Spannung aber kreierte freilich das Treiben in der Spitzengruppe.

Natürlich war es Delgado, der zuerst attackierte, schließlich hatte der Spanier wegen seines Prolog-Fauxpas' den größten Rückstand und musste fahren wie der Teufel, um in Paris zu triumphieren, da noch ein Zeitfahren anstand und er im Kampf gegen die Uhr am schwächsten war. LeMond und Fignon parierten, ehe der Franzose am Fuß des Schlussaufstiegs loszog. LeMond in seinem Rhythmus im Sitzen und, mit mehr Mühe, Delgado samt Helfer Rondon schlossen auf, ehe dieses mal der Amerikaner das Tempo noch einmal anzog und die Ausreißer geschluckt wurden.

Die Vierergruppe schoss dem Ziel entgegen, das Tempo machten Delgado und Rondon, ehe Fignon wie geplant exakt an der Vier-Kilometer-Marke attackierte. Er ging aus dem Sattel und riss mit seinem wehenden dünnen Haar und leicht geöffnetem Mund eine Lücke zum ihn verfolgenden LeMond, der nicht reagierte, nicht reagieren konnte. Delgado konnte zu Fignon aufschließen und der Abstand zum Mann in Gelb hinter ihnen schwankte zwischen 50 und 58 Sekunden. "This is one of the best moments of Tour-de-France-history", konnte Phil Liggett von Channel 4 seine Begeiserung nicht zurück halten. LeMond kam 1:19 Minuten hinter Fignon ins Ziel - Fignon hatte Gelb wieder und 26 Sekunden Vorsprung auf seinen amerikanischen Rivalen. Delgado lag 1:55 Minuten zurück.

Teil zwei: Teufelskerl Fignon

Teil zwei des Dramas folgte am nächsten Tag - die 18. Etappe führte in die Hochebene von Villard-de-Lans. Fignon wollte den Sieg unbedingt, bereits beim ersten Anstieg attackierte er erfolgreich und stürzte sich die Abfahrten hinunter wie ein verwegener Krieger, der nur ein Ziel hatte: Den Sieg in der Schlacht.

Mit 40 Sekunden Vorsprung ging er in die drei Kilometer lange Schlussrampe und fuhr wie der Teufel. Er gewann. Bei Channel 4 wurde vom "besten Fahrer" gesprochen, der "für eine Vorentscheidung" gesorgt hatte. 24 Sekunden nach dem Franzosen kam die Gruppe um LeMond ins Ziel, Fignon hatte nun 50 Sekunden Vorsprung und nur noch drei Etappen zu überstehen.

Akt drei: Psychospielchen

Auf der 19. Etappe, die den dritten Teil des Sport-Dramas markierte, ging es wieder im Gebirge zur Sache. Ganz früh hatten sich fünf Fahrer abgesetzt, darunter natürlich Fignon, LeMond und Delgado. Legendär sind die Bilder, wie sich das Quintett auf Schmalstraßen zwischen den Zuschauermassen hindurch kämpft. Im flachen Endstück war klar, dass LeMond nicht mehr entscheidend wegkommen würde, also verlegte er sich auf Psychospielchen.

Als sich Fignon nach einer Weile der Führungsarbeit ans Ende der Kleingruppe fallen lassen wollte, bremste LeMond ab und blieb seinerseits am Ende der Gruppe. Mit der Hand berührte er ihn am Rücken, als würde er sagen wollen: "Weg da! Der Platz im besten Windschatten ist meiner." Vom Hinterrad des Franzosen zog er den Schlusssprint an und siegte! Im Ziel revanchierte sich Fignon und klapste LeMond freundlich auf den Rücken: "Na und? Die Tour gewinne trotzdem ich!"

Akt vier: Finale furioso

Nach einer für das Klassement nicht wichtigen 20. Etappe, folgte das große Finale - das Einzelzeitfahren von Versaille nach Paris. LeMond 50 Sekunden hinter Fignon. Der Franzose gab sich trotz einer stark schmerzenden wunden Stelle am Gesäß siegesgewiss. "Ich kann pro Kilometer etwa zwei Sekunden langsamer sein als Greg", hatte er ausgerechnet. Dass er seinen für ein kurzes Zeitfahren von 25,5 Kilometern doch beträchtlichen Vorsprung noch einbüßen könnte, daran schien er nicht zu denken. "Es schmerzt wie die Hölle, aber danach habe ich es vergessen", erinnerte er sich in seiner Biografie "Wir waren jung und unbekümmert" an die Gedanken vor dem finalen Akt des Dramas.

Das spannendste Zeitfahren der Tour-Geschichte erlebte zunächst einen LeMond, der dem Ziel entgegen schoß und mit seiner tollen Technik und seinem flüssigen Tritt eine Fabel-Zeit einzufahren schien. Und Fignon? Der verliert kontinuierlich genau zwei Sekunden pro Kilometer. "Ich legte meine ganze Kraft in meine Tritte und biss die Zähne zusammen und versuchte alles, was ich konnte, um die Schmerzen zu vergessen", schrieb der Franzose.

"The most incredible thing"

Bei einer Zwischenzeit hatte LeMond 29 Sekunden gut gemacht, zu wenig. Fignon ging aus dem Satttel, als er die Zeit hört, er gab alles. Doch der Vorsprung schmolz mit jedem Kilometer. Der Amerikaner flog den berühmten Champs Elysée entlang. "Just 10 small seconds between these two men", kam es spannungsgeladen von Channel-4-Kommentatorenlegende Phil Liggett.

26:57 zeigte die Uhr, als LeMond im Ziel war. "This is the most incredible thing in my entire life!", bringt es Liggett auf den Punkt. Fignon kämpfte, er wankte, doch er fiel nicht. Er gab alles, hatte das Ziel vor Augen, während die Massen ausrasteten vor Spannung. "Come on, Laurent", ließ sich Liggett zur Aufgabe der Neutralität hinreißen, während die französischen Kollegen laut zählten. "5,4,3,2,1" - und dann war es vorbei. Ein episches Radrennen. Fast einen Monat hatten sich LeMond und Fignon duelliert und am Ende trennten die beiden acht Sekunden. Acht winzige Sekunden - ein Händedruck, fünf große Schlücke Wasser, ein absolutes Nichts und doch die ganze Welt für zwei legendäre Sportler.

"Wir haben gezeigt, warum wir alle den Sport so lieben"

LeMond unterschrieb einen Rekordvertrag und gewann die Tour 1990 noch einmal, während Fignon nie wieder ein großes Rennen gewann und immer der Mann blieb, der eine der bittersten Niederlagen der Sportgeschichte erlitten hatte. LeMond, der 1990 zum Weltsportler gewählt wurde, erlebte nach goldenen Tagen des amerikanischen Radsports mit Armstrong und Landis, als deren Begründer er angesehen werden kann, nach den Doping-Skandalen der beiden Sportler auch schwarze Stunden.

Nachdem er Landis im Vertrauen von dem Missbrauch in seiner Kindheit erzählt hatte, nutzte Landis diese Information, um LeMond mit Erpressung zu drohen, sollte der gegen ihn aussagen. Auch wenn es zu Aussöhnung kam, das perfide System des Dopings, das Armstrong auf die Spitze getrieben hatte, schockierte ihn vor allem wegen der Erpressung gegen seine Person.

Fignon starb 2010, nur Tage nach seinem 50. Geburtstag, an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Auch wenn Fignon und LeMond sich nie mochten und ersterer den Amerikaner als "Feigling" und zweiterer den Franzosen als "Verlierer" bezeichnet hatte, weiß LeMond, dass er Fignon danken muss. "Er und ich - wir haben Sportgeschichte geschrieben. Wir haben gezeigt, warum wir alle den Sport so lieben. Und das kann uns niemand mehr nehmen." Er hat Recht - diese acht Sekunden von Paris sind geschrieben und schon jetzt Teil des kulturellen Gedächtnisses des Wettkampfes zwischen Mann und Mann. Zwischen Mensch und Mensch.

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Seite 2: Das Drama in vier Akten

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