Der Moment der Olympischen Spiele

Von Alexander Mey / Florian Regelmann
Golden Girls: Daniela Anschütz-Toms, Stephanie Becker, Katrin Mattscherodt und Anni Friesinger
© Getty

Die deutschen Eisschnellläuferinnen haben im Teamwettbewerb die Goldmedaille gewonnen - und es war mit Abstand die dramatischste der Spiele. Erst der Sieg im Halbfinale trotz Sturzes von Anni Friesinger, dann die Entscheidung im Finale im Fotofinish - Wahnsinn! Andre Lange beendete seine glanzvolle Karriere mit Silber im Viererbob. Felix Neureuther ist im Slalom ausgeschieden. Gold ging nach Italien. Österreich machte die historische Pleite perfekt. Derweil hat Kanada den Medaillenspiegel bereits gewonnen - und jetzt den Gold-Rekord im Visier. Alles rund um den 16. Tag in Vancouver.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

15 Tage lang hatte es in Vancouver bereits immer wieder außergewöhnliche Momente gegeben, in denen mit den deutschen Athleten manchmal gelitten, aber vor allem viel gejubelt wurde.

Magdalena Neuner und Maria Riesch und ihre insgesamt vier Goldmedaillen kommen sofort in den Sinn, wenn es um Augenblicke geht, die in deutschen Wohnzimmern für Emotionen gesorgt haben.

All das wurde am vorletzten Tag der Olympischen Spiele noch einmal übertroffen. Dank Stephanie Beckert, Daniela Anschütz-Thoms, Katrin Mattscherodt und Anni Friesinger-Postma.

Ein echter Hitchcock

Die Golden Girls bescherten dem deutschen Team nicht nur die zehnte Goldmedaille, sie bescherten dem TV-Zuschauer den dramatischsten und zugleich schönsten Moment der Winterspiele.

Eigentlich waren es sogar mehrere Momente. Erst das Drama im Halbfinale um Stolper-Queen Anni, mehr zu unserer Frau des Tages später, und dann das Hitchcock-Finale gegen Japan.

Nach vier von sechs Runden hatten die deutschen Mädels noch einen Rückstand von 1,72 Sekunden. Eine Welt. Eigentlich nicht mehr aufzuholen. Aber angeführt von einer überragenden Stephanie Beckert kamen sie immer dichter heran und lagen am Ende im Fotofinish vorne. Um 2 Hundertstel. Mit dem Auge auf dem Zielfoto praktisch nicht zu erkennen.

Silber für Lange - Kanada gewinnt Medaillenspiegel

Kurze Zeit später sorgte Andre Lange im Viererbob für das nächste "Wow", als er den Kanadier Lyndon Rush im letzten Lauf noch um eine Hundertstel abfing und zum Ende seiner glanzvollen Karriere Silber gewann.

Dass der Amerikaner Steven Holcomb die so berüchtigte Hochgeschwindigkeitsstrecke im Whistler Sliding Centre spielerisch im Griff hatte und völlig verdient Gold gewann, störte da nur wenig.

Mit 10 Mal Gold, 12 Mal Silber und 7 Mal Bronze hat Deutschland vor dem Schlusstag, der nur noch eine vage Medaillenchance im 50km-Langlauf bringt, fast genau die gleiche Bilanz wie vor vier Jahren in Turin (11-12-6).

Der komplette Medaillenspiegel

Dennoch wird es diesmal nicht zum Sieg im Medaillenspiegel reichen. Diesen hat Kanada nach drei Goldmedaillen am Samstag bereits sicher. Längst ist in den kanadischen Medien von "Wincouver" die Rede.

Mit 13 Mal Gold und siebenmal Silber übertrafen die Gastgeber Russland, das 1976 in Innsbruck eine Bilanz von 13-6-8 erreicht hatte - und am letzten Tag hat Kanada durch seine Hockey-Boys sogar noch die Chance, Gold Nummer 14 zu gewinnen und die Winterspiele zu einem Abschluss zu bringen, der Festivitäten in bisher nicht gekanntem Ausmaß nach sich ziehen würde. Oh Canada!

Die Entscheidungen des Tages

 

WettbewerbMeldung

Langlauf, 30km der DamenSachenbacher wird Vierte

Eisschnelllauf, Teamverfolgung (H)Gold Nummer 11 für Kanada

Eisschnelllauf, Teamverfolgung (D)Drama-Gold für Deutschland

Snowboard, Parallelriesenslalom (H)Gold Nummer 12 für Kanada

Ski alpin, Slalom der HerrenSieg für Italien - Österreich trauert

Curling, Finale der HerrenGold Nummer 13 für Kanada

Bob, Viererbob der HerrenLange beendet Karriere mit Silber
Eishockey, Spiel um Platz 3 (H)Finnland gewinnt irres Spiel

 

Was sonst noch wichtig war:

Bob: Der ehemalige Weltklassepilot und Doppel-Olympiasieger Christoph Langen wird möglicherweise neuer Bob-Cheftrainer des deutschen Verbandes. Der Sportdirektor des Bob- und Schlittenverbandes (BSD) für Deutschland kündigte an, dass eine Entscheidung bis April fallen werde. Der BSD sucht einen Nachfolger für Goldschmied Raimund Bethge, der nach 20 Jahren auf diesem Posten in Rente geht.

Schlussfeier: Magdalena Neuner wird bei der Schlussfeier die deutsche Fahne tragen. Die 23-Jährige gewann bei ihrer ersten Olympia-Teilnahme zwei Goldmedaillen und eine Silbermedaille. Eine logische Wahl.

Frau des Tages: Anni Friesinger-Postma

Oh mein Gott, Anni! Es ist die Szene der Winterspiele. Der Deutschland-Express liegt im Halbfinale gegen die USA klar auf Final-Kurs, als Friesinger-Postma schon in der vorletzten Runde nicht mehr wirklich mit ihren Kolleginnen mitkommt. Sie will aber mitkommen und gibt alles, so dass sich die Muskulatur im linken Oberschenkel total verkrampft. Es wird immer schlimmer. In der vorletzten Kurve stürzt sie fast, aber sie beißt weiter. Bis sie 50 Meter vor dem Ziel dann doch die Kräfte verlassen und sie platt wie eine Flunder auf dem Bauch liegend über die Ziellinie rutscht. Völlig enttäuscht haut sie mit der Faust auf das Eis, weil sie denkt, sie hat alles verbockt. Dann ein Blick auf die Anzeigetafel - und die Erleichterung: Es hat doch gereicht! Und plötzlich lacht sie wieder! Das Beste: Friesinger-Postma hatte die 23 Hundertstel noch "herausgeholt", indem sie ihre Beine mit einem Scherenschlag nach vorne geschwungen hatte. Unfassbar! Nach einer verkorksten Saison und enttäuschenden Resultaten in ihren Einzelstarts hat sich Friesinger-Postma mit einem Highlight von Olympia verabschiedet, das in die Geschichte eingehen wird. Ach ja, noch ein Gruß an Nancy Swider-Peltz, Jr.: Selbst schuld, wenn man aufrecht über die Ziellinie läuft. Rutschen, Fuß vor, so wird's gemacht.

Mann des Tages: Kwame Nkrumah-Acheampong

Gestatten, Kwame Nkrumah-Acheampong, Ghanaer, Skiläufer! Skifahren gelernt in einer Skihalle im englischen Milton Keynes. Spitzname: Schnee-Leopard. Bei den alpinen Bewerben haben auch diesmal wieder so einige Exoten mitgemacht, aber niemand ist heißer die Piste runtergeschossen wie Kwame Nkrumah-Acheampong. Kwame Nkrumah-Acheampong hatte nach zwei Slalom-Läufen auf dem 47. Rang zwar 43,28 Sekunden Rückstand auf Sieger Giuliano Razzoli, aber Kwame Nkrumah-Acheampong ist immerhin nicht wie Bode Miller nur drei Tore weit gekommen. Kwame Nkrumah-Acheampong hat als erster Sportler Ghanas an Olympischen Winterspielen teilgenommen. Eigentlich hatte Kwame Nkrumah-Acheampong schon beim Riesenslalom starten wollen, aber die Mannschaftsleitung hatte vergessen, ihn rechtzeitig zu melden. Shit happens. Im Slalom klappte es nun also mit dem Olympia-Debüt von Kwame Nkrumah-Acheampong, der in Whistler genauso viele Pressekonferenzen gab wie die großen Stars. Kwame Nkrumah-Acheampong hat Autogrammkarten, Kwame Nkrumah-Acheampong hat einen Song aufgenommen, Kwame Nkrumah-Acheampong rockt!

Sprüche des Tages:

"Heute Abend wird es sicher einige Getränke geben. Andre spricht ja immer vom Schädelfluten." (Der ehemalige Weltklassepilot und Doppel-Olympiasieger Wolfgang Hoppe über die zu erwartenden Feierlichkeiten nach dem Silbermedaillengewinn von Andre Lange)

"Mit acht Jahren habe ich als Rodler begonnen. Ich bin 28 Jahre so einen Berg runtergerutscht, irgendwann muss Schluss sein. Ich gehe aus einer rosaroten Sportlerwelt ins Leben rein. Das wird nicht einfacher." (Bob-Legende Andre Lange nach seiner letzten Fahrt)

"Stephan Gneupel sagt immer: Hinten hat der Fuchs die Eier." (Bundestrainer Markus Eicher über seinen Trainerkollegen, der die erfolgreiche Aufholjagd des deutschen Frauen-Teams im Finale gegen Japan geahnt zu haben schien)

"Es kommt mir vor wie ein Surf-Trip. Ich hätte meinen Neoprenanzug anziehen sollen." (US-Snowboarder Chris Klug nach den Qualifikationsläufen im Parallelriesenslalom bei Regen und dichtem Nebel)

"Die Olympischen Spiele sind noch intensiver als die NHL-Playoffs." (Kanadas Headcoach Mike Babcock über das fantastische Eishockey-Turnier)

Zahlen des Tages:

164 Minuten und 4 Sekunden stand Zdeno Chara während des olympischen Eishockey-Turniers auf dem Eis. Kein Spieler wurde mehr eingesetzt als der slowakische Weltklasse-Verteidiger. Auch wegen Chara hätte die Slowakei nach einem tollen Turnier eine Medaille verdient gehabt, aber es hat nicht sollen sein.

25 Zentimeter betrug der Vorsprung der deutschen Eisschnellläuferinnen im Finale der Teamverfolgung gegen Japan.

5. sind die USA aktuell in der Eishockey-Weltrangliste. Fünfter? Klar, das wird dann nicht für das Finale reichen, dachte sich der US-Verband vor den Winterspielen und buchte für Sonntagmorgen Rückflugtickets. Jetzt spielt das Team um Zach Parise aber gegen Kanada um Gold - und musste mal ganz flugs umbuchen. Was ein Zirkus!

0 Medaillen hat Österreich bei den alpinen Bewerben der Herren geholt. Null! Gab es noch nie!

8 der 10 deutschen Goldmedaillen gingen auf das Konto der Frauen. Deutschlands Mädels sind damit auch die Olympiasiegerinnen von Vancouver. Im separaten Medaillenspiegel triumphierten sie (8-6-4) klar vor Gastgeber Kanada (5-6-3), Norwegen (4-2-1) und China (4-1-3). Erst dann folgten die USA (2-5-5).

Der komplette Medaillenspiegel