Ist er jetzt schon der bessere Timo Boll?

Von Alexander Mey
Dimitrij Ovtcharov ist bei Olympia im Einzel jetzt schon erfolgreicher als Deutschlands Star Timo Boll
© Getty

Dimitrij Ovtcharov ist gelungen, was zuletzt sein Trainer Jörg Roßkopf vor 16 Jahren geschafft hat und dem großen deutschen Star Timo Boll bisher verwehrt blieb. Er hat eine olympische Einzelmedaille im Tischtennis gewonnen. Der Beginn einer Wachablösung?

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46. Das war die Zahl der SMS, die Dimitrij Ovtcharov bereits wenige Minuten nach dem größten Triumph seiner Karriere auf dem Handy hatte. Jeder wollte der erste Gratulant sein, schließlich hatte der gebürtige Ukrainer die erste Einzelmedaille für den Deutschen Tischtennis­-Bund seit 1996 gewonnen.

Damals hatte Jörg Roßkopf in Atlanta Bronze geholt. Heute ist er Bundestrainer und war der Erste, dem ein völlig fassungsloser Ovtcharov nach dem verwandelten Matchball in die Arme fiel.

"Ich habe mich so sehr von Punkt zu Punkt konzentriert, dass ich gar nicht begreifen konnte, dass es plötzlich vorbei war. Ich dachte: 'Das kann jetzt noch nicht vorbei sein, das geht bestimmt noch in den siebten Satz.' Dann war es auf einmal doch vorbei", versuchte Ovtcharov, das Chaos in seinem Kopf und seinem Herzen nach dem Punktgewinn zum 14:12 in einem dramatischen sechsten und letzten Satz eines hoch spannenden Matches gegen den Taiwanesen Chuang Chih-Yuan zu beschreiben.

Roßkopf erinnert an eigene Bronzemedaille 1996

Roßkopf sah die Sache - wie es seine Art ist - deutlich nüchterner: "Ich musste ihm erst einmal bestätigen, dass es wirklich vorbei und er der Gewinner war. Ich weiß nicht, ob er die letzte Rückhand so durchgezogen hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, wie es steht."

Als Motivation für das entscheidende Match kramte Roßkopf in seinen eigenen Erinnerungen: "1996 war ein Thema. Ich wühle generell nicht gerne in der Vergangenheit herum, aber in diesem Fall war es wichtig, weil bei ihm alles genauso gelaufen ist wie damals bei mir. Ich wusste genau, wie er sich fühlt."

Ovtcharov erinnerte sich sogar noch an die genauen Worte, die ihm Roßkopf für das Match gegen Chuang mit auf den Weg gegeben hatte: "Er hat gesagt: 'Denk dran, ich habe das auch schon mal geschafft!'"

Ovtcharov: Aufgeben? Niemals!

Es war sicher nicht das beste Match von Ovtcharov, der aktuellen Nummer zwölf der Weltrangliste, aber es war eins, in dem er nie aufgegeben und eiserne Nerven bewiesen hat.

Er lag im ersten Satz schnell 0:5 zurück und gewann ihn noch, er verlor die Sätze zwei und drei, er lag im vierten Satz zurück und gewann ihn noch. Er lag im letzten Satz zurück und gewann auch den noch. Das war gleichzeitig der Matchgewinn.

"Ich habe in meinem Leben so lange trainiert, da gibt man nicht auf, sondern gibt immer alles, was man hat", sagte Ovtcharov.

Im Halbfinale gegen Favorit Zhang Jike nicht chancenlos

Aufgegeben hatte er auch nicht, nachdem er das Halbfinale am Vormittag gegen den Chinesen Zhang Jike - den späteren Olympiasieger - mit 1:4-Sätzen verloren hatte. Es war spielersich vielleicht sogar das bessere Spiel von Ovtcharov an diesem Tag, aber die paar Fehler, die er mehr gemacht hat als der favorisierte Chinese, kosteten ihn das Finale.

"Dima weiß, dass er seine Chancen hatte. Der vierte Satz war der Knackpunkt. Bei 9:10 hatte er die Chance zurückzukommen und beim 2:2-Satzausgleich wäre das Match noch mal von vorne losgegangen", analysierte Roßkopf zwischen den beiden Matches.

200 Gramm Reis zum Mittagessen

Ovtcharov war in diesem Moment schon auf dem Weg in sein Hotelzimmer neben der Arena, um eine Pause einzulegen. "Ich habe versucht, zehn Minuten zu schlafen, habe aber kein Auge zubekommen. Ich dachte nur: 'Hoffentlich geht es bald los, ich kann die Anspannung nicht mehr ertragen'", sagte der 23-Jährige.

In Sachen Stärkung für das Match um Bronze ging er einen kuriosen Weg: "Ich habe mir hier beim Chinesen 200 Gramm Reis geholt. Das waren Kohlenhydrate und zweieinhalb Stunden vor dem Spiel kann ich nichts mehr mit Soßen oder so essen." Reis. Pur. Lecker!

Positiver Dopingbefund 2010 ist abgehakt

Aber wenn es hilft, dann hat er alles richtig gemacht. Und in Sachen Ernährung ist Ovtcharov ohnehin ein gebranntes Kind, nachdem er 2010 in China angeblich durch kontaminiertes Fleisch einen erhöhten Clenbuterol-Spiegel hatte und somit positiv auf Doping getestet wurde.

Nach der Vorlage einiger Experten-Meinungen und weiterer entlastender Indizien wurde im Januar 2011 der Verzicht des DTTB auf ein Disziplinarverfahren von der Welt-Antidoping-Agentur WADA bestätigt. Damit war der Fall erledigt und Ovtcharov konnte wieder sportlich angreifen.

Bröckelt die Übermacht der Chinesen?

Und nun ist er an der Spitze angekommen. Zumindest an der Spitze für Europäer, denn die Übermacht der Chinesen ist noch nicht gebrochen, auch wenn einige Beobachter meinen, sie langsam bröckeln zu sehen.

"Dima hat gegen Jike schon einige sehr gute Spiele gemacht und war nah am Sieg dran", sagte Roßkopf. Ovtcharov, der privat akribisch Buch über Stärken, Schwächen und Taktiken seiner Gegner führt, analysierte: "Ich habe einige Momente gegen Jike im Kopf, die ich gerne anders gespielt hätte. Das können wir später mal zu Hause analysieren. Leider sind die Chinesen noch diese zwei entscheidenden Punkte besser."

So schnell wird Ovtcharov nicht an Bolls Thron rütteln

Erstes Ziel sollte es für Ovtcharov erst einmal sein, die Nummer eins in Deutschland und damit gleichzeitig in Europa zu werden. Denn vor ihm steht trotz der bitteren Achtelfinal-Niederlage in London immer noch Timo Boll.

Und daran wird sich auch so schnell nichts ändern, betonte der Bundestrainer: "Man braucht ein paar Turniere, Medaillen und Titel mehr, um eine Hierarchie aufzubrechen. Es wird nicht einfach für Dima, Timo den Rang abzulaufen, denn er ist ein sehr guter Teamleader."

So schnell will Ovtcharov auch gar nicht an Bolls Thron rütteln. "Timo ist wieder voll da. Ich denke, er wird in der Mannschaft Druck ablassen. Vor allem ihn werden wir dort in Top-Form erleben", sagte er am Tag vor Beginn des Team-Wettbewerbs.

Feier fällt flach - nur ein Stück Pizza

Schon am Freitag um 19 Uhr Ortszeit geht es gegen Schweden wieder an den Tisch. Auch wieder mit Ovtcharov, der zu Gunsten seiner Kollegen sogar auf jegliche Feierlichkeiten anlässlich seiner Bronzemedaille verzichten will.

"Es wäre verantwortungslos, heute Abend im Deutschen Haus feiern zu gehen", sagte er. Eine kleine Sünde sollte aber doch auf dem Programm stehen - kulinarischer Art: "Heute Abend gönne ich mir noch etwas Gutes. Vielleicht ein Stück Pizza."

Nach 200 Gramm trockenem Reis sei ihm das von Herzen gegönnt.

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