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Von Liane Killmann
Einsame Reise. Usain Bolt (r.) setzt schon weit vor dem Ziel den Jubel an
© Getty

Der Countdown zu den Olympischen Spielen in London läuft. Am 27. Juli startet die Jagd auf Goldmedaillen. Zahlreiche Sportler sind auf dieser Jagd zu Legenden geworden, weil ihr Weg zu Gold besonders spektakulär, dramatisch oder kurios war. SPOX blickt in den kommenden Wochen auf die aus sportlicher Sicht zehn größten Momente der Olympia-Geschichte zurück. Teil 9: Usain Bolts goldener Weltrekord-Hattrick von Peking.

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Es ist völlig windstill im Vogelnest von Peking an diesem Abend. Beste Bedingungen für Topzeiten. Astrophysiker werden hinterher berechnen, dass eine Zeit von 9,55 Sekunden drin gewesen wäre für den unglaublichen Usain Bolt. Wenn er denn voll durchgezogen hätte. Wenn sein Schnürsenkel gehalten hätte. Und wenn ihn ein Gegner angegriffen hätte. Doch Bolt war unantastbar.

Dieser 1,95 m lange Jamaikaner, der es mit einem Gewicht von knapp 100 Kilogramm schafft, locker und schlaksig daher zu kommen. Der Kerl mit den langen Schritten und dem wohl leichtfüßigsten Laufstil unter den Sprintern seiner Zeit. Lightning Bolt, der seine Rennen gern mit einer kleinen Portion Wahnsinn würzt. Vor dem Start Reggae tanzt und mit seinem Gehampel die Konkurrenz auf die Palme treibt. Der während der knallharten 100 m tiefenentspannt lächeln kann. Während er seinen kämpfenden Gegnern das Gefühl vermittelt, auf der Tartanbahn kleben zu bleiben.

So auch im Finale von Peking. Landsmann Asafa Powell werden vor dem Startschuss ebenso wie Bolt Gold-Chancen eingeräumt. Powell wird auf dem enttäuschenden 5. Platz (9,95) landen. Selbst der Achtplatzierte Darvis Patton ist mit 10,03 verdammt schnell. Nur reden wird hinterher niemand mehr darüber. Denn Bolts Auftritt sprengt alles, was 100-m-Finals bislang boten.

Ein 80-Meter-Sprint mit lockerem Auslaufen

Bolt erwischt einen vergleichsweise schlechten Start. Richard Thompson liegt vorn. Doch als Bolt sich aufrichtet und seinen langen Schritt auspackt, ist er vorn und niemand kann ihm folgen. Während sieben Topathleten gleichauf um Silber kämpfen, hat sich Bolt zwischen 20- und 80-Meter-Marke einen deutlichen Vorsprung von etwa drei Metern "erschlendert" - nach Erarbeiten sieht es jedenfalls nicht aus. Inzwischen hat sich ein Schnürsenkel gelöst, Bolt stört das nicht.

20 Meter vor der Ziellinie geschieht das Unfassbare. Bolt breitet seine Arme zum Jubeln aus, lächelt entspannt und schlägt sich noch vor der Zeitnahme auf die Brust. Der Jamaikaner hat seine Dominanz, sein Gold realisiert - und feiert. Vor der Ziellinie. Wahnsinn.

Dann erst sieht er die Zeit. 9,69 Sekunden. Drei Hundertstel schneller als seine Bestmarke in New York. Weltrekord. Bolt läuft locker weiter und hängt direkt eine halbe Ehrenrunde dran. Auf der Gegentribüne umarmt seine Mutter Jennifer gerade hüpfend und kreischend den halben Block. Niemand ist vor ihrem lauten Jubel sicher. Er drängt bis in die Wohnzimmer der Fernsehzuschauer. Bolt fällt ihr in die Arme.

Video: Usain Bolt vor den Spielen in London

Faszination vs. Fassungslosigkeit

Diese Demonstration der Stärke, die Distanz zum zweitplatzierten Thompson aus Trinidad und Tobago (9,89) und das frühe Bremsen beim Jubeln - all das löst bei den Zuschauern im Stadion wie auch den Fans vor den Fernsehern Widersprüchliches aus. Faszination über die sportliche Leistung und Zweifel, wie so etwas möglich ist. Kopfschütteln über die vergebene Topzeit und Wut über das vermeintliche Verhöhnen der Konkurrenten. Bolt polarisiert. Das zeigt sich auch im anschließenden Medienecho.

Vom "sensationellen Jahrhundertlauf", "Magie", dem "strahlenden Bolt-Blitz", dem "Außerirdischen" und "König der Athleten" ist da zu lesen. Aber auch von "Demütigung", "Jogging" und "Wahnwitz". Bolts früher Jubel wird ihm als Arroganz ausgelegt.

Geboren, die 200 m zu sprinten

Er hatte dieses Rennen mit einer Leichtigkeit dominiert, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als 100 m zu laufen. Dabei hatte er bis zur Saison 2008 genau ein internationales Rennen auf dieser Strecke absolviert. Am 18. Juli 2007 im griechischen Rethimno, er lief eine 10,03. Erst 2008 nahm Bolt die Strecke regelmäßig in sein Wettkampfprogramm auf. Bis zum Triumph in Peking trat Bolt bei gerade einmal sechs 100-m-Rennen an, fünf davon absolvierte er unter 9,92 Sekunden. Bei seinem vierten Auftritt schraubte er den Weltrekord in New York auf 9,72 Sekunden.

Seine Laufbahn hatte aber auf den langen Sprintstrecken 200 und 400 m begonnen. Bolt wurde mit nur 15 Jahren 2002 Juniorenweltmeister über die 200 m und verteidigte den Titel ein Jahr später. Mit 19,93 Sekunden hält Bolt seit 2004 bis heute den Junioren-Weltrekord über seine Paradestrecke. Ein Trainer hat einmal über den Mann aus dem jamaikanischen Dschungel gesagt, er sei geboren, die 200 m zu laufen.

Mittwoch, 20. August 2008: 200 m in 19,30 Sekunden, Weltrekord

Das bekommen Bolts Konkurrenten fünf Tage nach dem ersten Gold in Peking zu spüren. Getroffen von der "Verhöhnungskritik" zieht Bolt das Rennen diesmal gnadenlos durch. Er wirkt am Start weniger zappelig, konzentrierter. Schwer zu sagen, ob das aus gestiegenem Erfolgsdruck oder den kritischen Stimmen resultiert.

Fakt ist, Bolt startet glänzend, spielt seine herausragende Kurventechnik aus, um den vor ihm laufenden Brian Dzingai aus Simbabwe schon nach 15 Schritten mitten in der Kurve zu überholen. Mit knapp drei Metern Vorsprung geht Bolt auf die zweite Hälfte und macht auf der Geraden Ernst. Schließlich bringt er zehn Meter und eine gute halbe Sekunde zwischen sich und den Rest der Welt. Bolt ist Doppel-Olympiasieger, zum ersten Mal seit Carl Lewis 1984 gewinnt ein Athlet wieder beide Sprint-Titel.

Und das in 19,30 Sekunden. Bolt drückt den zwölf Jahre alten Weltrekord von Michael Johnson um zwei Hundertstelsekunden. "Das ist Superman II. Eine unglaubliche Vorstellung, eine unglaubliche Zeit, eine unglaubliche Leistung. Gratulation", lobt Johnson Bolt nach dem Rennen. Erstmals seit dem Jamaikaner Don Quarrie 1976 hält in diesem Moment ein Sprinter zeitgleich die Bestmarken über die 100 und 200 m.

Wenige Stunden nach seinem zweiten Olympiasieg wird Bolt 22 Jahre alt. Die Party steigt erst später, denn der Youngster hat noch einen Termin im Vogelnest. Ein Rennen, das diese perfekte Woche von Peking krönen wird.

Freitag, 22. August 2008: 4x100-m-Staffel in 37,10 Sekunden, Weltrekord

Für den Finaleinzug mussten angesichts von Bolts strapaziösem Programm andere sorgen. Im Endlauf aber ist der Blitz natürlich in der zweiten Kurve dabei. Nesta Carter und Michael Frater beginnen, Bolt schickt Asafa Powell mit gehörigem Polster auf die Schlussgerade. Jamaikas Quartett liegt fast eine Sekunde vor der Silber-Staffel aus Trinidad und Tobago. Bolt und Co. sprengen in 37,10 Sekunden den alten Weltrekord um drei Zehntel.

Bolt bringt in Peking das Kunststück fertig, mit drei Starts drei Olympiasiege zu erringen und dabei jeweils im Finale so schnell zu sein, wie niemand vor ihm. Was folgt, ist ein Triumphzug. Bolt ist bei den Spielen in China der Einzige, der nicht im Schatten des US-Schwimmers Michael Phelps (acht Starts, acht Olympiasiege, sieben Weltrekorde) steht. Bolt lieferte eben die deutlich bessere Show ab. Entsprechend wird er hofiert, ist weltweit ein Superstar und wird 2009 und 2010 jeweils mit dem Laureus World Sports Award ausgezeichnet.

Alle drei Weltrekorde verbessert

Bolt hält noch immer alle drei Weltrekorde, konnte diese sogar verbessern. Jamaikas Staffel lief bei der WM in Daegu 2011 eine 37,04. 2009 schraubte Bolt bei der WM in Berlin die Bestmarken auf den Einzelstrecken auf 9,58 und 19,19 Sekunden. Michael Johnson, inzwischen einer der größten Bolt-Fans, traut ihm eine 9,4 über die 100 m und die 18 vor dem Komma über die doppelte Distanz zu.

Doch der Strahlemann ist nicht mehr unantastbar. Unvergessen sein Rückschlag in Daegu, als sich der große Favorit im 100-m-WM-Finale einen Fehlstart leistete und disqualifiziert wurde. Bei den Jamaika Trials in Kingston vor wenigen Wochen im Juni schließlich fügt 100-m-Weltmeister und Trainingskollege Yohan Blake Bolt zwei empfindliche Niederlagen zu. Blake gewinnt die 100 m in 9,75 Sekunden (Bolt: 9,86 Sekunden) und danach auch die 200 m in 19,80 (19,83).

Bolt ist zwar 2012 mit 9,82 Sekunden so schnell wie seit 2008 nicht mehr in die Saison gestartet. Seither plagen den 25-Jährigen jedoch Rücken- und Oberschenkelbeschwerden. Mehrfach sucht Bolt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt in München auf. Auf das als Olympia-Generalprobe geplante Diamond-League-Meeting in Monaco hat er verzichtet. Seit dieser Woche aber, so Bolt, sei er wieder topfit.

Bolt: Drei Goldene verteidigen

Dennoch klingt es trotzig, wenn er von der Titelverteidigung seiner drei Olympiasiege spricht. Der sicherste Gold-Tipp dürfte die 4x100-m-Staffel Jamaikas sein, wenn Bolt gemeinsam mit Blake und Powell an den Start geht. Auf den Einzelstrecken bahnt sich jedoch ein spannendes Duell zwischen Bolt und Blake an.

Gut möglich, dass Bolt dieser Tage in London manchmal an die Woche im Vogelnest von Peking zurückdenkt. Dann wird er sich seine Unbekümmertheit und die ungeheure Dominanz in Erinnerung rufen. Wohl wissend, dass es diesmal ganz anders kommen könnte.

Olympia 2012: Alle Wettkämpfe im SPOX-Zeitplan

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