Zwischen Himmel und Hölle

Von Bastian Strobl
Cathy Freeman konnte ihren Erfolg in Sydney im ersten Moment kaum realisieren
© Imago

Der Countdown zu den Olympischen Spielen in London läuft. Am 27. Juli startet die Jagd auf Goldmedaillen. Zahlreiche Sportler sind auf dieser Jagd zu Legenden geworden, weil ihr Weg zu Gold besonders spektakulär, dramatisch oder kurios war. SPOX blickt in den kommenden Wochen auf die aus sportlicher Sicht zehn größten Momente der Olympia-Geschichte zurück. Teil 8: Cathy Freemans Gold-Lauf in Sydney 2000.

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"Der Lauf unseres Lebens!" Als wären die meterhohen Plakate mit ihrem Konterfei am Flughafen und im kompletten Stadtgebiet nicht genug gewesen, setzte der "Sydney Morning Herald" mit seiner Schlagzeile am 25. September 2000 noch eins drauf.

Spätestens damit wurde auch dem letzten Besucher klar: Das 400-Meter-Finale der Frauen war mehr als ein normales Rennen. Es war DAS Rennen. Für die Australier. Für die Aborigines. Für ein ganzes Land. Und natürlich für Cathy Freeman.

Man hatte damals den Eindruck, dass die kompletten Spiele ohne ihr Olympia-Gold nichts wert gewesen wären. Sie musste einfach gewinnen. Wer mag schon ein Märchen ohne Happy End?

Das Politikum Freeman

Doch Freeman war nicht nur das Gesicht der Spiele. Sie wurde auf Grund ihrer Vergangenheit zum Politikum. In ihren Adern fließt syrisches, chinesisches und englisches Blut. Doch es sind ihre Aborigine-Wurzeln, auf die sie vor allem stolz ist.

"Meine Abstammung bedeutet mir alles. Ich fühle die ganze Zeit für mein Volk", sagte Freeman 1990. Um diese Verbindung zu verstehen, muss man sich die Stellung der Ureinwohner vor Augen führen. Jahrzehntelang wurden die Aborigines in Australien diskriminiert, verfolgt und bedroht.

Ihre Großmutter gehörte zur sogenannten "gestohlenen Generation". Zu jener Zeit wurden den Aborigines ihre eigenen Kinder weggenommen, die wiederum bei weißen Familien aufwachsen mussten.

"Ich kenne meinen Großvater nicht. Ich habe nie meine Urgroßmutter kennengelernt. Das werde ich nie vergessen. Dafür ist der Schmerz zu groß. Und ich bin nicht die Einzige, die so fühlt", so Freeman.

Kampf gegen Rassismus

Dass diese Offenheit auch zu Anfeindungen führen kann, erfuhr sie am eigenen Leib. Gerade zu Beginn ihrer Läuferkarriere hatte sie häufig mit rassistischen Beleidigungen zu kämpfen.

Doch Freeman blieb ihrer Überzeugung treu. Auch 1994. Nach ihrem Triumph bei den Commonwealth Games schwenkte sie auf ihrer Ehrenrunde sowohl die australische als auch die Flagge der Aborigines.

"Für mich war das keine große Sache. Ich wollte den Leuten einfach mal die Fahne zeigen, von der jeder gehört hat, die aber die wenigsten gesehen haben", betonte Freeman im Anschluss.

Die Offiziellen sahen das anders und tadelten die damals 21-Jährige. Doch Freeman konnte es sich leisten, denn ihr Talent war unbestritten. Bereits als 16-Jährige konnte sie als erste Aborigine Gold bei den Commonwealth Games gewinnen.

Duell mit Marie-Jose Perec

Über die nächsten Jahre duellierte sich Freeman über die Stadionrunde vor allem mit Marie-Jose Perec. In Atlanta 1996 hatte die Französin die Nase vorne. Bei den Weltmeisterschaften 1997 und 1999 behielt Freeman die Oberhand.

Dementsprechend groß waren die Erwartungen, als die Olympischen Spiele in Sydney unaufhaltsam näher rückten. Doch nicht nur auf der Tartanbahn sollte Freeman Großes leisten.

Sie sollte eine Brücke darstellen zwischen den Ureinwohnern und der weißen Bevölkerung. Woran unzählige Politiker in den Jahrzehnten zuvor gescheitert waren, das sollte nun eine Sportlerin schaffen.

"Sie steht für die Versöhnung zwischen den farbigen und weißen Einwohnern", erklärte David Rowe, Professor an einer australischen Universität, kurz vor den Spielen.

"Es war unglaublich traumatisch"

Wie fühlt es sich wohl an, wenn man die Last eines ganzen Landes auf den Schultern trägt? Eine Frage, die sie zu dieser Zeit nicht beantwortete. Erst nach ihrem Rücktritt 2003 brach Freeman gegenüber dem "Daily Telegraph" ihr Schweigen: "Ich denke, dass niemandem, insbesondere nicht mir selbst, bewusst war, was für ein Opfer ich für Sydney bringen musste. Es war wunderbar, fabelhaft, der Gipfel meiner Karriere. Aber es war auch so unglaublich traumatisch. Traumatischer als ich mir zu dieser Zeit zugestand, zu empfinden."

Dass ihr während der Eröffnungsfeier zudem die Ehre zuteil wurde, das Olympische Feuer zu entzünden, passte ins Bild. Freeman war allgegenwärtig. Die ruhige und entspannte Vorbereitung im britischen Eton schien Lichtjahre entfernt zu sein.

Ob irgendjemand damals ahnte, dass die Euphorie immer noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte? Wohl noch nie in der Geschichte der Olympischen Spiele fieberte ein ganzes Land derart auf ein Event hin wie die Australier. Normalerweise stehen andere Leichtathletik-Wettbewerbe mehr im Vordergrund. Die 100 Meter der Männer. Oder der Marathon-Lauf. Doch nicht in Sydney.

Die Begeisterung in der Bevölkerung führte sogar zur Abreise der härtesten Konkurrentin. Später erklärte Perec ihre Flucht damit, sich bedroht gefühlt zu haben. Diese Nebengeräusche gingen im allgemeinen Freeman-Hype allerdings fast komplett unter. Zu groß war die Vorfreude.

Ein magischer Abend

Am 25. September hatte das Warten ein Ende. Die Atmosphäre im Olympic Stadium an diesem Tag bezeichneten Besucher schlichtweg als magisch.

Besonders die übliche Vorstellung der Läuferinnen blieb in Erinnerung. Olga Kotlyarova, Donna Fraser, Katharine Merry, Lorraine Graham, Ana Guevara. Die ersten fünf Damen wurden mit freundlichem, aber zurückhaltendem Applaus empfangen.

Dann kam die Eruption. Als Freeman auf den Leinwänden im Stadion auftauchte, stieg der Geräuschpegel schlagartig an.

Man konnte den Eindruck gewinnen, ein komplettes Land hatte sich erhoben, um Freeman anzufeuern. Sekunden später ertönte der Startschuss, gefolgt von einem Blitzlichtgewitter, das die Oscar-Verleihung vor Neid erblassen ließ.

Graham und Merry halten dagegen

Doch unter die erwartungsvollen Gesichter mischten sich auch Zweifler: Sollte Freeman dem großen Druck wirklich standhalten? Auf den ersten 200 Metern schienen sich die Befürchtungen zu bestätigen. Die Favoritin wirkte verkrampft. Graham und Merry auf den Innenbahnen hatten nach der Hälfte des Rennens die Nase vorne.

Bevor es in die letzte Kurve ging, sprach Australiens Kommentatoren-Legende Bruce McAvaney das aus, was wohl die Mehrzahl der 112.524 Zuschauer dachten: "Graham is in front of her. Freeman got work to do here!"

Doch so einfach wollte sich das Publikum nicht geschlagen geben. Als die Läuferinnen auf die Zielgerade einbogen, trieben die Zuschauer Freeman mit ekstatischen Anfeuerungsrufen nach vorne.

Und auch Freeman hatte ihr Pulver noch nicht verschossen. Lag sie 100 Meter vor dem Ziel noch auf Platz drei, holte sie - wie im Vorfeld mit ihrem Trainer Peter Fortune besprochen - Meter für Meter auf und schob sich tatsächlich noch an Graham und Merry vorbei. 49,13 Sekunden. Weltjahres-Bestzeit für Freeman. Und das erste Olympische Einzel-Gold für eine Aborigine.

Eine Olympiasiegerin "am Boden"

Sie hätte nun kreischend und jubelnd über die Tartanbahn springen können. Stattdessen entschloss sich Freeman, den Reißverschluss ihres Ganzkörperanzuges zu öffnen, sich die Kapuze vom Kopf zu ziehen und sich am Ort ihres größten Erfolges niederzulassen.

"Ich war überwältigt von der Stimmung. Ich konnte die Leute spüren. Ihre Freude, ihren Spaß. Ich musste mich einfach setzen", so Freeman.

Während auf der Tribüne tausende Fahnen geschwenkt wurden und sich wildfremde Menschen in die Arme fielen, saß die Hauptdarstellerin einfach da, schaute um sich, nahm fassungslos zahlreiche Gratulationen an und schüttelte immer wieder mit dem Kopf.

Eine Hommage an 1994

2003 blickte sie überraschend offen auf diesen Moment zurück: "Alles gipfelte in der Nacht im Olympiastadion in Sydney, als ich die 400 Meter gewann und dann einfach auf der Laufbahn saß und es kaum wagte, das Fenster in meinem Geist zu öffnen, das mich all die Gefühle erfahren lassen sollte, die darum kämpften, in meinen Kopf gelassen zu werden. Ich denke nicht, dass ich das Fenster jemals wirklich ganz aufgemacht habe."

Umso bemerkenswerter, dass sich Freeman nach der kurzen Verschnaufpause doch noch auf ihre verdiente Ehrenrunde machte. In ihren Händen: dieselben zwei Flaggen wie einst 1994. Das war sie weder der weißen Bevölkerung noch den Aborigines schuldig. Sondern einfach nur sich selbst.

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