Das Kapital und sein Schattenmann

Von Bastian Strobl
Boris Becker und Michael Stich (v.l.n.r.) holten 1992 Gold im Doppel
© Imago

Der Countdown zu den Olympischen Spielen in London läuft. Am 27. Juli startet die Jagd auf Goldmedaillen. Zahlreiche Sportler sind auf dieser Jagd zu Legenden geworden, weil ihr Weg zu Gold besonders spektakulär, dramatisch oder kurios war. SPOX blickt in den kommenden Wochen auf die aus sportlicher Sicht zehn größten Momente der Olympia-Geschichte zurück. Teil 10: Das Duo Becker/Stich holt Gold in Barcelona 1992.

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"Zwischen den Ballwechseln haben wir gar nicht miteinander gesprochen, denn wir mochten uns nicht wirklich." Eigentlich sind Sportler nicht für ihre Ehrlichkeit bekannt. Zu viel steht auf dem Spiel. Selbst nach dem Ende der aktiven Karrieren bleiben die meisten Erlebnisse ein gut gehütetes Geheimnis.

Wie gesagt: eigentlich. Das Verhältnis zwischen Boris Becker und Michael Stich war jedoch kein Geheimnis, das wird einem nicht nur durch Beckers Aussage bewusst. Es war weitläufig bekannt, dass die beiden deutschen Topspieler der 80er und 90er Jahre sich nicht sonderlich leiden konnten.

Einige sagten sogar: Sie hassten sich. Auf der einen Seite: Boris Becker, jüngster Wimbledon-Champion aller Zeiten, Liebling einer ganzen Nation. Und ganz nebenbei der Mann, der Tennis in Deutschland massentauglich machte.

"Becker ist das Kapital"

Auf der anderen Seite: Michael Stich. Nicht ganz so erfolgreich wie Becker. Nicht ganz so bekannt wie Becker. Nicht ganz so beliebt wie Becker.

Ion Tiriac, der ehemalige Manager des dreifachen Wimbledon-Champions, beschrieb die Situation einst so: "Stich ist wichtig, aber Becker ist das Kapital des deutschen Tennis."

Die Rollen waren lange klar verteilt - bis das Jahr 1991 kam. Ausgerechnet in Wimbledon, Beckers Wohnzimmer, holte Stich seinen ersten Grand-Slam-Titel. Der Name des Finalgegners versüßte den Triumph umso mehr: Er lautete Becker.

Den ultimativen Ritterschlag bekam Stich von Pete Sampras: "Wenn alle ihr bestes Tennis spielen, ist Stich der Beste." Auf der Beliebtheitsskala änderte das allerdings wenig. Becker blieb der Mann des Volkes, Stich sein Schattenmann.

Pilic hält das Duo zusammen

Als einige Monate nach seinem Wimbledon-Erfolg bekannt wurde, dass ausgerechnet die beiden Erzfeinde bei Olympia in der Doppel-Konkurrenz antreten sollten, hielten das die meisten für einen schlechten Scherz.

"Es war insofern sehr schwierig, weil Michael und ich Konkurrenten im Welttennis waren", so Becker. Nur Niki Pilic, der damalige Davis-Cup-Kapitän, glaubte an das wagemutige Vorhaben: "Beide passten gut zusammen, obwohl sie unterschiedliche Typen waren. Ich wusste, sie wären perfekte Doppelpartner."

Um beide zu überzeugen, musste der Kroate jedoch "diplomatisches Geschick" beweisen: "Beide waren Weltklasse-Spieler, hochmotiviert - aber ich musste sie zusammenbringen."

Eine reine Zweckgemeinschaft

Eines war jedoch allen Beteiligten von Anfang an klar: Die Mission Olympia war keine Angelegenheit unter Freunden, sondern eine reine Zweckgemeinschaft.

Sowohl Stich als auch Becker fehlte noch Olympisches Edelmetall, um ihre Laufbahnen zu krönen. Das Problem an der Sache: Vor der Bekanntgabe hatten beide nur ein gemeinsames Doppel gespielt: 1989 in Frankfurt, mit überschaubarem Erfolg.

Dass in Barcelona zudem auf Sand gespielt werden sollte, sorgte auch nicht gerade für zuversichtliche Gesichter. Weder Becker noch Stich konnten sich während ihrer Karrieren sonderlich mit der roten Asche anfreunden.

Beide scheitern im Einzel

Dass ausgerechnet zwei Niederlagen die Situation auf den Kopf stellten, passt wohl perfekt ins Bild. Im Einzel schied erst Stich gegen einen gewissen Charly Steeb aus. Im Achtelfinale folgte ihm Becker (Pleite gegen Fabrice Santoro).

Auf einmal war die Interessensgemeinschaft die einzige Chance, eine Medaille zu holen. "Nachdem wir beide im Einzel draußen waren, haben Michael und ich uns angeschaut und gesagt: Wir müssen irgendwie unsere Animositäten, die wir sonst haben, zur Seite schieben", erinnerte sich Becker gegenüber dem "ZDF".

Interessanterweise machte Becker - zumindest für die Öffentlichkeit - während den Spielen trotzdem gute Miene zum bösen Spiel. "Es hat nie Differenzen gegeben. Man hat sich nur nicht richtig erkannt", wird er damals zitiert.

Krimi gegen Spanien und Argentinien

Allen Meinungsverschiedenheiten zum Trotz spielte sich das Duo auch dank einer angenehmen Auslosung relativ locker bis ins Viertelfinale. Dort warteten die Lokalmatadoren und zweifachen Grand-Slam-Sieger Sergio Casal und Emilio Sanchez. Es sollte zur Nervenprobe für das ungleiche deutsche Team werden. Vor 6000 ekstatischen Fans rangen Becker und Stich ihre Gegner nach fünf hart umkämpften Sätzen kurz vor Mitternacht nieder.

Keine 24 Stunden später das gleiche Spiel im Halbfinale: wieder ein Fünf-Satz-Krimi, diesmal gegen Argentinien, wieder ein deutsches Happy End. Die Erzrivalen standen im Finale.

Die Kommunikation untereinander war trotzdem quasi nicht existent. "Das hat mich Jahre meines Lebens gekostet. Gesprochen haben beide nicht miteinander. Das musste ich erledigen. Ich bin zwischen den Zimmern hin- und hergependelt und musste viel lügen", blickte Pilic zurück.

Der Glutofen von Vall d'Hebron

Dann kam der 5. August 1992. Der Tag, an dem deutsche Sportgeschichte geschrieben wurde. Mit etwas Glück und einem abgewehrten Satzball sicherten sich Becker und Stich im Glutofen von Vall d'Hebron den ersten Satz im Tiebreak.

Doch die Südafrikaner Wayne Ferreira und Piet Norval kämpften sich zurück und glichen aus. Im dritten Satz, den das deutsche Duo eigentlich dominerte, jedoch zahllose Breakchancen vergab, platzte Becker dann der Kragen. Mit einem kräftigen "Leck mich am Arsch" entlud sich sein ganzer Frust.

Dieser wütende Ausbruch hätte das Ende aller Gold-Träume sein können. Er wurde es nicht. Stattdessen schöpfte vor allem Becker neue Kraft daraus. Der dritte Satz ging erneut im Tiebreak an das DTB-Duo.

Im vierten Durchgang waren Becker und Stich dann nicht mehr zu stoppen, holten sich gleich das erste Aufschlagspiel der Südafrikaner und gaben den Vorsprung nicht mehr her. 7:6, 4:6, 7:6, 6:3. Game, Set and Match.

Stich/Becker schreiben Geschichte

"Wir sind uns in die Arme gefallen. Gänsehaut pur! Eines der schönsten Glücksgefühle meines Lebens", schilderte Becker die Momente nach dem Matchball. Zum ersten Mal holten deutsche Tennisspieler bei Olympia Gold.

"Das kann man noch gar nicht richtig in Worte fassen. Ich bin sehr stolz heute. Mein Verhältnis zu Olympia ist goldig", sagte Becker direkt nach der Partie. Selbst bei der Siegerehrung blickten beide noch ungläubig auf die Medaille um ihren Hals.

Alles schien perfekt zu sein. Doch selbst der größte Triumph kann persönliche Differenzen nicht übertünchen. Es dauerte nicht lange, bis aus den Teamkollegen wieder bittere Rivalen wurden.

Der endgültige Bruch

"Abends wollten wir gemeinsam feiern, mit den anderen auf den Putz hauen - doch ein paar Stunden nach der Siegerehrung flog Michael nach Deutschland zurück. Ich glaube, seine Freundin hat auf ihn gewartet. Ich versuchte noch, ihn umzustimmen, aber er blieb stur: 'Nee, ich habe keine Lust.' Und das, nachdem wir uns vierzehn Tage lang gemeinsam herumgequält hatten, bei bis zu fünfzig Grad im Schatten!", beklagte sich Becker später in seiner Autobiografie über Stich.

Heutzutage bedauert Stich sein Verhalten nach dem Endspiel: "Das war ein großer Fehler. Ich hätte mit Boris, mit Niki, mit allen, die da waren, feiern sollen. Diesen Sieg konnten wir nur gemeinsam erzielen."

Beckers Erklärung klingt dagegen nüchterner: "Wir wollten eigentlich groß feiern. Aber unsere Rivalität hat das nicht zugelassen. Das ist verrückt. Aber das ist die Wahrheit." Erschreckend - aber auch erschreckend ehrlich.

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