"Ich bin nicht gestorben"

Von Interview: Alexis Menuge
Salim, Sdiri
© Getty

München - 13. Juli. Golden-League-Meeting in Rom. Es ist kurz nach 22 Uhr, als sich der finnische Speerwerfer Tero Pitkämäki für seinen Versuch bereitmacht.

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Bei Pitkämäki lohnt es sich hinzusehen, schließlich ist er ein Ausnahmekönner in seiner Disziplin, und 85 Meter plus X sind Standard beim Vize-Europameister. Doch dieser Versuch ist anders. Irgendetwas stimmt nicht. Pitkämäki hat den Wurf völlig verrissen.

Sein Speer segelt zu weit nach links. Viel zu weit.

Auf der Tartanbahn zur Linken der Rasenfläche halten sich die Weitspringer warm. Salim Sdiri steht mit dem Rücken zum Rasen, nestelt an seinen Schuhen. Er ahnt nicht, was auf ihn zukommt. Wie hätte er es auch ahnen können. Niemand rechnet mit so einem Albtraum.

Pitkämäkis Speer bohrt sich in Sdiris Rücken. Die Szene ist grotesk. Der französische Weitspringer wirkt, nun ja, überrascht oder verwundert. Auch die Zuschauer im Stadion und seine umstehenden Kollegen sind perplex, aber nur eine Sekunde lang. Eine winzige Schrecksekunde. Dann bricht Panik aus.

Sdiri wird sofort in ein Krankenhaus gebracht und noch in der Nacht entlassen. Der Speer sei nicht tief in seinen Körper eingedrungen. Innere Verletzungen seien ausgeschlossen. Zurück im Hotel begegnet er Pitkämäki, der sich bei ihm entschuldigt. Sdiri macht dem Finnen keine Vorwürfe.

Am Sonntag begibt sich Sdiri wegen starker Schmerzen wieder ins Krankenhaus. Die erneute Untersuchung erbringt eine beunruhigende Diagnose: Mehr als zehn Zentimeter tief hatte sich der Speer in Sdiris Rücken gebohrt. Eine Niere wies einen Riss auf, die Leber ein Loch. Seine starke Muskulatur hatte Sdiri das Leben gerettet.

Im Februar dieses Jahres gab er in der Halle sein Comeback, im Juli sprang er 8,21 m und löste das Ticket für Peking. Bei SPOX spricht Salim Sdiri über die Horrornacht von Rom, seine Ängste und Hoffnungen und seine Erwartungen für Olympia. Mit dem Weltverband IAAF geht er hart ins Gericht.

SPOX: Fast auf den Tag genau 13 Monate liegt Ihr fürchterlicher Unfall zurück. Wie geht es Ihnen?

Salim Sdiri: Ich habe ein halbes Jahr Pause gemacht und dann im Februar wieder mit Wettkämpfen angefangen. Ich bin froh, wieder dabei zu sein, denn ich habe monatelang kaum etwas machen können. Manchmal fühlte ich mich wie ein Löwe in seinem Käfig.

SPOX: Was war das für ein Gefühl, als Sie zum ersten Mal wieder an einem Wettbewerb teilnahmen?

Sdiri: Das war ein sehr gutes Gefühl. Allerdings habe ich mich gleich am linken Fuß ziemlich blöd verletzt. So musste ich mein Comeback erneut verschieben. Nun bin ich aber bereit.

SPOX: Sind Sie wieder der Alte?

Sdiri: Ja, und das ist für mich eine große Erleichterung. Ich bin nicht gestorben und ich kann weiterhin Sport auf höchstem Niveau treiben. Das ist ein unbeschreibliches Gefühl. Für mich ist es eine Art Revanche. Ich habe wahnsinnig viel Spaß daran, wenn ich müde nach einem Training nach Hause komme. Es zeigt, dass ich noch existiere, und dass ich immer noch in der Lage bin, Gas zu geben.

SPOX: Während der gesamten Vorbereitung auf Ihr Comeback haben Sie geschwiegen. Warum?

Sdiri: Ehrlich gesagt: Ich hatte Angst! Mein Comeback brachte mir schlaflose Nächte. Vor allem weil ich überhaupt nicht wusste, wo ich körperlich stehe. So war es mir lieber, mich zurückzuziehen.

SPOX: Haben Sie mal daran gedacht, komplett aufzuhören?

Sdiri: Absolut. Vergangenen Herbst war das. Ich war so froh, überhaupt noch am Leben zu sein und meine Familie wieder zu sehen. Damals dachte ich: Ich sage die Olympischen Spiele einfach besser ab.

SPOX: Wirklich?

Sdiri: Ja. Ich wollte von der ganzen Leichtathletik nichts mehr hören. Ich war auch vom Verhalten des internationalen Verbands wahnsinnig enttäuscht. Im Dezember hatten Sie mir versprochen, mir einen Brief zu schicken, um mir Mut zu machen. Aber von diesem Brief habe ich bis heute nichts gesehen. Man sollte mich nicht für einen Idioten halten. Der Verband hätte sich zumindest melden sollen. Aber leider kam gar nichts...

SPOX: Haben Sie das traumatische Erlebnis von Rom denn verarbeitet?

Sdiri: Körperlich fühle ich mich sehr gut, nur im Kopf gibt es noch Arbeit zu leisten. Ich kann den Unfall einfach nicht so schnell vergessen. Ich trainiere nicht mehr wie früher. Und es ist ebenfalls schwer damit umzugehen, dass mich mehr Leute wegen meines Unfalls kennen als wegen meiner Leistungen.

SPOX: Was würden Sie konkret vorschlagen, um solche Unfälle in Zukunft zu vermeiden?

Sdiri: In jedem Fall sollte man nicht warten, bis es erst einen Toten gibt. Das wäre sicherlich verkehrt. Man sollte auch nicht immer wieder betonen, dass niemand an solchen Ereignissen schuld sei. Das ist falsch. Das ist nur Heuchelei.

SPOX: Nun beginnen die Leichtathletik-Wettkämpfe in Peking. Welche Erwartungen haben Sie an sich?

Sdiri: Wie ich schon sagte, habe ich mehrfach daran gedacht, die Olympischen Spiele abzusagen. Hätte ich das getan, dann hätte ich meine Karriere sogar höchstwahrscheinlich beendet. Das wäre einfach zu brutal für mich gewesen. Ich habe in Peking nichts zu verlieren. Im Gegenteil. Ich möchte nur zeigen, dass man mich nicht abschreiben sollte, und dass man mich als wahren Champion betrachten sollte und nicht als jemanden, der einmal einen schweren Unfall hatte.

SPOX: Die Qualifikation für Olympia verlief ziemlich erfolgreich. Sie sprangen 8,21 Meter.

Sdiri: Es war toll, über die 8-Meter-Marke zu kommen. Es war vor allem eine Erleichterung. Ich bin sehr zufrieden mit mir. So kann es ruhig weiter gehen.

SPOX: Wie lauten Ihre Ziele in China?

Sdiri: Alles ist möglich. Jede Überraschung ist drin. Sogar chinesische Leichtathleten können für Sensationen sorgen. Ich werde mein Bestes geben, und dann schauen wir mal was daraus kommt.

SPOX: Könnten Sie sich vorstellen, noch einmal einen Wettkampf zu bestreiten, während gleichzeitig die Speerwerfer aktiv sind?

Sdiri: Niemals. Ich werde nie wieder antreten, wenn die Speerwerfer in der Nähe sind. Das kommt überhaupt nicht in Frage, nach allem, was ich durchmachen musste. Wenn ich im Finale stehen würde und parallel wäre Speerwerfen, dann würde ich meine Final-Teilnahme sofort absagen. Unter solchen Bedingungen würde ich scheitern. Es hätte keinen Sinn zu springen.

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