"Mehr als Kofferradios gab es nicht"

Von Christoph Köckeis
Jens Weißflog gewann in seiner Karriere viermal die Vierschanzentournee
© imago
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SPOX: Sie rutschten erstmals 1980 in Garmisch-Partenkirchen ins neue Jahr: Welche Erinnerungen haben Sie an Ihren Premieren-Auftritt?

Weißflog: (lacht) Es war sehr aufregend. Ich war nur bei zwei Springen dabei, in Oberstdorf und Garmisch. Danach durfte ich nicht mehr ran. Mitunter war es einer sehr kurzfristigen Regeländerung geschuldet. Wir mussten über Nacht die Höhe des Keils unter dem Schuh verändern. Mein Gefühl ging dadurch verloren. Für einen 16-Jährigen war das schwierig. Trotzdem erlebte ich erstmals den Mythos hautnah mit - es war eine überaus lehrreiche Erfahrung.

SPOX: In der Gesamtwertung belegten Sie den 110. Rang...

Weißflog: Mit so schlechten Leistungen hätte ich nicht gerechnet. Es war undenkbar, dass ich irgendwann vier Mal die Tournee gewinnen würde. Ich hätte jeden für verrückt gehalten, der mir das vorausgesagt hätte. Die erste erfolgreiche Teilnahme 1982/83 war prägend für mich.

SPOX: Plötzlich grinsten Sie mit den Stars der Szene um die Wette: Matti Nykänen war einer Ihrer schärfsten Widersacher - und Ihr Vorbild. Wie lässt sich das vereinbaren?

Weißflog: Aufgrund der sportlichen Präsenz wurde er zu einem großen Konkurrent. Was ihm gelungen ist, innerhalb kürzester Zeit unwahrscheinlich viel zu gewinnen, war für mich beeindruckend. Bei jeder WM von 1982 bis 1989 eroberte er zumindest einmal Gold, zumal er im ersten Jahr in Oslo gleich Weltmeister wurde. Zuvor sprangen wir noch gemeinsam bei der Junioren-WM. Dennoch konnten wir am Ende des Tages mal auf ein Feierabend-Bier gehen. Obwohl die Verständigung problematisch war: Ich sprach kein Finnisch, er kaum Englisch.

SPOX: Die Tournee entschied Nykänen zwei Mal für sich, Ihre Vita schmücken vier Triumphe. Erstaunlich dabei: Sie konnten als einziger Skispringer vor und nach der Technik-Revolution 1990 siegen. Zahlreiche Athleten scheiterten an der Umstellung. Wie viel Arbeit steckte dahinter?

Weißflog: Sehr viel (lacht). Ich hatte mit 28 Jahren derart viele Sprünge in den Beinen, dass ich die Technik komplett neu erlernen musste. Es war, wie wenn man als Rechtshänder plötzlich mit links schreiben muss. Die Bewegungsabläufe mussten durchbrochen werden. Meine Eigenart, parallel zu springen, erlaubte es mir zunächst nicht, in den V-Stil zu kommen. Die Umstellung dauerte daher länger als bei jungen Kollegen. Es war ein komplett neues Gefühl in der Luft.

SPOX: Ihnen glückte die Umstellung, bezeichnen Sie nicht zuletzt deshalb den Erfolg 1995/96 als Ihren emotionalsten?

Weißflog: Nein, das war unabhängig davon. 1994 hatte ich schon die Chance, die Tournee zum vierten Mal zu gewinnen. In diesem Jahr wollte ich eigentlich aufhören. Ich hängte zwei weitere Jahre dran, obwohl ein Gesamtsieg nicht zu planen ist. Im letzten Jahr war ich weit davon entfernt, als Favorit zu gelten. Die Erwartungshaltung wurde trotzdem geschürt. Dieser Druck war mit dem Scheitern 1994 ständig gegeben. Ich war heilfroh, als sich das in Luft auflöste und das Gerede aufhörte. Es war eine Erleichterung und der krönende Abschluss meiner Karriere.

SPOX: Für Sie war es der zweite Triumph nach der Wende: In der DDR wurden Sie als Held gefeiert. Wie lange dauerte es, sich diesen Status in der Bundesrepublik zu verdienen?

Weißflog: Eigentlich ging es nahtlos über. In den westlichen Bundesländern wurde ich sofort aufgenommen, da ich alle Erfolge fortan für Gesamt-Deutschland einfuhr. Die ersten Jahre nach dem Mauerfall waren geprägt durch eine gewisse Unsicherheit, wie es nun weitergeht.

SPOX: Wie ist das zu verstehen?

Weißflog: Für mich verfügte die DDR über das ideale Sportsystem, da wir voll unterstützt wurden. Danach plagten uns viele Fragen zu unserer Zukunft: Geht es überhaupt weiter oder nicht? Das alltägliche Leben veränderte sich. An einem Menschen geht so etwas nicht spurlos vorüber.

SPOX: In "Freiheit" ließ sich danach vieles mehr auskosten?

Weißflog: Nein, das würde ich nicht behaupten. Natürlich konnte man sich freier bewegen und mal etwas ausgelassener feiern. Die Freude über einen Gesamtsieg bei der Tournee war allerdings unabhängig vom politischen System. Immerhin ist es mit das Größte, was man als Skispringer erreichen kann.

SPOX: Seither hat sich die Tournee in ihren Grundfesten verändert - insbesondere die Schanzen betreffend. Sie entsprechen modernsten Standards, einzig die Naturanlage in Bischofshofen fällt aus dem Muster. Inwiefern litt darunter die Strahlkraft?

Weißflog: Die Tournee ist weiterhin ein Höhepunkt. Einfacher wird es durch die modernen Anlagen eher nicht. Warum sonst gelang in der Historie nur Sven Hannawald der Grand Slam. Mittlerweile entscheidet durch diese Ähnlichkeiten nicht mehr die Variabilität des Springers, dafür spielen andere Aspekte eine wesentliche Rolle. Das Skispringen wurde aufgrund der ausgereizten Ausrüstung windanfälliger. Man benötigt trotz neuer Regeln nicht nur eine bestechende Form, sondern auch absolutes Glück, um durchzukommen.

SPOX: Macht es das beinahe unmöglich, einen Siegertipp auszumachen?

Weißflog: Für mich gibt es momentan keinen Favoriten, weil sich das Feld zu stark durcheinander gemischt hat. Positiv aus deutscher Sicht waren Podest-Platzierungen durch vier verschiedene Athleten. Nur fehlt der Spitzenmann. Wobei im gesamten internationalen Feld aktuell die Stabilität fehlt. Einzig Kamil Stoch zeigt eine Tendenz zur Konstanz. Selbst Gregor Schlierenzauer kann heute gewinnen - und morgen auf dem 16. Platz landen.

SPOX: ÖSV-Cheftrainer Alexander Pointner erkor Andreas Wellinger im SPOX-Interview zum kommenden Superstar. Wie sieht Ihre Einschätzung aus?

Weißflog: Von den Ansätzen sehe ich Wellinger als stärksten Deutschen, wobei man Freund und Freitag nicht vergessen sollte. Jeder hat das Potenzial, auf das Podest zu springen. Zu Seriensiegen ist derzeit keiner in der Lage, allerdings kann sich das Bild schnell wenden. Plötzlich etablieren sich Talente, die man davor nicht auf der Rechnung hatte. Ein wichtiges Zeichen wäre, jemanden in der Gesamtwertung der Tournee auf das Podest zu bringen. Alle drei müssen stabil werden und lernen, die Form zum richtigen Zeitpunkt abzurufen. Auch eine Einzel-Medaille bei Olympia fehlte uns in den letzten Jahren.

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