"Wellinger kann einen Hype lostreten"

Von Christoph Köckeis
Alexander Pointner ist seit 2004 Trainer der ÖSV-Springer
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SPOX: Ihren Stars wird eine mentale Rundumversorgung bereitgestellt - warum schwören Sie auf diese Facette des Trainings?

Pointner: Der Körper muss sich in seiner Umgebung wohlfühlen. Jeder Sportler verfügt mittlerweile über ein psychologisches Grundwerkzeug. Zuerst riefen wir das Projekt "Coach the Coaches" ins Leben und gingen immer tiefer in die Strukturen. 2007 nahmen wir die Audiovisuelle Wahrnehmungsförderung, AVWF-Methode, in unser Training auf und entwickelten sie mithilfe des Entwicklers Dr. Ulrich Conrady weiter. Durch Neuro-Coaching versuchen wir die Sportler zu schulen, damit das autonome Nervensystem gerüstet ist, um den Anforderungen gewachsen zu sein.

SPOX: Sie sind bemüht, permanent neue Reize zu setzen: Inwiefern bekriegen Sie damit nach all den Sternstunden ein natürliches Sättigungsgefühl?

Pointner: Absolute Zufriedenheit wird bei uns niemals einkehren. Der Wettkampf von heute ist morgen Vergangenheit. Man wird stets an den künftigen Erfolgen gemessen. Jeder Sportler blickt, solange er aktiv ist, nach vorne. Wir befinden uns in einer Ausbildung, müssen gewisse Situationen reflektieren und uns entwickeln. Ich werde morgen nicht die Fehler von gestern begehen. So geht es auch meinen Athleten, obwohl sie Olympiasieger, Weltmeister oder Gesamtweltcup-Sieger sind.

SPOX: Im Sport, so heißt es gemeinhin, kommt und geht die Überlegenheit zumeist in Zyklen. Warum lässt sich dem nicht entgegenwirken?

Pointner: Die Wellenbewegungen gibt es immer, das ist ein Kreislauf. Man entwickelt innovative Methoden und erschließt Ressourcen. Im Fall Deutschland ist das massiv zu spüren. Beinahe jede Trainingsgruppe verfügt über österreichische Betreuer. Eine Hand reicht nicht, um diese abzuzählen. Da steckt sehr viel rot-weiß-rotes Know-How und Entwicklung dahinter. Martin Schmitt oder Sven Hannawald zeigten, was in diesem Land möglich ist. Von Sponsoring sowie Marketing ist das eine andere Kategorie als bei uns. In den vergangenen Jahren konnte das deutsche Skispringen wenig zum Funktionieren der Gesamtsportart in Mitteleuropa beitragen. Daher nahmen die Verantwortlichen zuletzt sehr viel Geld in die Hand, scheuten nicht vor unmoralischen Angeboten zurück.

SPOX: Die Anhänger vermissten zuletzt schmerzlich ihre Identifikationsfiguren von einst: Hat die jüngste Generation wieder Kultpotenzial?

Pointner: Man braucht diese Typen, die sportlich die Richtung vorgeben, offen und authentisch sind. Im alpinen Bereich erreichte Hermann Maier ungeahnte Ausmaße der Popularität. Bei uns war es zunächst Andreas Goldberger, dann kamen Morgenstern, Schlierenzauer und schlussendlich die Super-Adler als kompakte Einheit. Wenn ich über die Grenze blicke: Andreas Wellinger könnte einen Hype lostreten. Er wäre ein Typ Spitzensportler, der breit aufgestellt sein und neue Dimensionen erreichen könnte. Springt er gut, funktioniert es auf mehreren Ebenen leichter.

SPOX: Wie definieren Sie die "ideale" Außendarstellung?

Pointner: Man muss eine gewisse Leichtigkeit verkörpern. Eine graue Maus, bei der Emotionen weder ins Positive noch ins Negative ausschlagen, fasziniert die Fans nicht. Schauzuspielern hat keinen Sinn, da wird man, nachdem man sich im Spitzensport zu oft in Grenzsituationen bewegt, schnell entlarvt. Wenn man siegreich ist, sich wohlfühlt und artikulieren kann, läuft der Rest zusammen.

SPOX: Schlierenzauer darf getrost als Prototyp firmieren - auf und abseits der Schanzen. Was zeichnet ihn aus?

Pointner: Seine Qualitäten kristallisierten sich früh heraus, er ging damit niemals fahrlässig um. Gregor ist ehrgeizig, aber nicht der einfachste Typ. Genau das macht es aus. Sportler, die einem alles recht machen, sind für Trainer fein zu haben, bringen es jedoch nicht soweit. Egal, ob Morgenstern oder Schlierenzauer - da kracht es mitunter. Wo gearbeitet wird, fallen eben Späne. Durch Reibung entsteht wiederum Energie. Ich habe diese in die richtigen Bahnen zu lenken.

SPOX: Mit 23 Jahren hält er bei 52 Weltcup-Triumphen, wird die Rekordmarke von Matti Nykänen (46) pulverisieren. Die magische 100 scheint nicht in unerreichbarer Ferne - was sagen Sie zu diesen Zahlen-Spielerein?

Pointner: Geht nicht, gibt's nicht - bei uns ist diese Einstellung stets präsent. Wenn jeder seine Aufgaben auch in Zukunft erfüllt, ist alles möglich. Zwar sollte man das Ziel für Gregor nicht so formulieren, trotzdem verfügt er zweifelsohne über das Potenzial, die 100er-Marke zu knacken. 2004 war es beispielsweise undenkbar, dass ich heute mit meinem Team alles erreicht habe - ohne Ausnahme.

SPOX: Was treibt Sie überhaupt noch an?

Pointner: Da schließt sich der Kreis: Nachdem die Herausforderungen an der Spitze komplexer werden, veränderte sich mein Anforderungsprofil in zehn Jahren wesentlich. Aktuell ist die Qualität im Skispringen sehr hoch, die Gegner sind stärker denn je - damit müssen wir lernen umzugehen. Wie steigt man auf Provokationen ein? Wie bleibt man trotz hoher Erwartungshaltung variabel? Das macht die Arbeit überaus interessant. Wir werden Tag für Tag mit neuen Situationen konfrontiert.

SPOX: Wie in Klingenthal als Schlierenzauer zusammen mit Anders Bardal ob unberechenbarer Windböen den Wettbewerb boykottierte - warum trafen Sie diesen unpopuläre Entschluss?

Pointner (lacht): Wichtig ist nachzudenken, was hinter dem Geschehen steckt, einiges abzuschütteln und an die Wurzel zurückzugehen: Warum machen wir das? Jeder soll an dem Sport natürlich Spaß finden. Die FIS hat Systeme geschaffen, um an die Grenzen zu gehen, teilweise darüber hinaus, damit Wettkämpfe trotz widriger Witterungen stattfinden können. Wir wollten die Sache neutralisieren und klarmachen, dass wir nicht in einen Bus steigen, ohne das Steuer zu haben. Wenn ein Rahmen nicht mehr gewährleistet ist, sage ich Stopp. Schlierenzauer und Bardal, die Aushängeschilder der letzten Jahre, haben viel für den Sport geleistet - in Klingenthal wurden sie vorgeführt. Wir sind viel zu oft der Spielball der Jury.

SPOX: Worauf führen Sie das konkret zurück?

Pointner: Bestes Beispiel ist die Anlaufverkürzung, welche einen Sicherheitsaspekt als Ursprung hatte. Mittlerweile wird dieses Tool missbraucht, um auf das Geschehen massiv Einfluss zu nehmen. Die Intention war, den Anlauf zu 95 Prozent nicht zu regulieren - außer in Ausnahmefällen. Nun wird versucht, dem Fan weite Sprünge zu zeigen. Bis zu den Besten wird peu á peu verkürzt, meines Erachtens die größte Unart. Der Zuschauer möchte Transparenz: Wer am weitesten springt, ist der beste - so war es jahrzehntelang. Heutzutage ist das zumeist nicht gegeben, die Sache schwer nachzuvollziehen.

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