Neue Fairness auf der Schanze

Von Marcus Giebel
In zehn Wettkämpfen kommen Gate- und Windfaktor auf Pascal Bodmer und Kollegen zu
© Getty

Steht die Sportart Skispringen vor der größten Revolution seit dem Übergang zum V-Stil? Wenn Gregor Schlierenzauer, Simon Ammann, Martin Schmitt und ihre Kollegen am 30. Januar ins Oberstdorfer Tal segeln, finden Wind- und Gatefaktor erstmals bei einem Weltcup-Springen im Winter Anwendung. Die Reformen werden von jeder Menge Skepsis begleitet. Vor allem das Über-Team der vergangenen Jahre ist wenig angetan. SPOX hat Meinungen gesammelt, beantwortet die wichtigsten Fragen und hakte bei Dieter Thoma nach, der eine klare Meinung vertritt.

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Bei welchen Springen wird nach den neuen Regeln gesprungen?

Da die Österreicher im November gegen die Einführung der im Sommer Grand Prix getesteten Neuerungen stimmten, werden diese nur bei der FIS Team Tour (30. Januar bis 7. Februar) und beim Nordic Tournament (6. bis 14. März) - also bei zehn Wettkämpfen - angewendet. Damit verlängerte der Weltverband FIS gezwungenermaßen die Testphase.

Was ändert sich durch die neuen Regeln?

Die Jury kann die Anlauflänge während eines Durchgangs verändern, ohne dass der Wettkampf neu gestartet werden muss. Zudem werden Rücken- beziehungsweise Aufwind in die Bewertung mit einbezogen.

Für die Fernsehzuschauer wird neben den Weitenmetern und den Haltungsnoten auch der Windwert in der TV-Grafik eingeblendet.

Wie wird der Windfaktor berücksichtigt?

Bei jedem Sprung wird die Windgeschwindigkeit und -richtung an fünf verschiedenen Punkten gemessen und ein Durchschnittswert - der Windwert - ermittelt.

Bei Rückenwind gibt es Bonuspunkte, bei Aufwind werden Zähler abgezogen.

Die Rechnung:

Durchschnittswert x (hill size - 36)/20

Beispiel: In Oberstdorf (hill size: 213) springt Schlierenzauer 200 Meter weit, als Durchschnittswert werden 1,5 m/s Rückenwind ermittelt. Also: 1,5 x (213 - 36)/20 = 13,3. Die Weite ist auf halbe Meter (hier: 13,5) aufzurunden, womit Schlierenzauer Punkte für eine Weite von 213,5 Metern (200+13,5) bekommen würde.

Was bedeutet der Gatefaktor?

Je nach vorherrschenden Windverhältnissen kann die Jury die Springer aus verschiedenen Luke starten lassen. Den Athleten werden auch hier - nach einer an jede Schanze angepassten Formel - Punkte abgezogen oder addiert.

Es wird davon ausgegangen, dass auf einer Großschanze ein Meter Anlauflänge etwa fünf Meter an Weite ausmacht. Die Lukenabstände betragen zumeist 60 oder 70 Zentimeter.

Die Rechnung für eine Großschanze:

veränderte Anlauflänge in Zentimetern als prozentualer Anteil von 5 Metern Sprungweite x Punktwert pro Meter

Beispiel: Wegen aufkommenden Rückenwinds startet Ammann in Lahti (hill size: 130) eine Luke (60 Zentimeter) höher als seine Vorgänger. Also: (60% von 5) x 1,8 =  5,4. Damit werden von seinem Punktwert 5,4 Zähler subtrahiert.

Was ist das Ziel der Neuerungen?

Priorität des FIS ist es, dass Skispringen fairer werden soll. Mit veränderbaren Anlauflängen und der Berücksichtigung des Windwertes werden Siege von Außenseitern, die einzig vom äußeren Einfluss begünstigt werden, ausgeschlossen.

Daneben lässt sich die Durchführung eines Wettkampfes besser planen, da Abbrüche und Unterbrechungen kaum noch zu erwarten sind.

Auch ein Vorteil für die Fernsehanstalten, die nicht mehr mit überlangen Übertragungen aufgrund von Windkapriolen rechnen müssen.

Warum sind viele Athleten gegen die Einführung?

Die Trainer und Springer befürchten, dass die Transparenz des Skispringens verloren geht, wenn nicht mehr zwangsläufig der weiteste Sprung zum Sieg führt. Daher denken sie vor allem an die Zuschauer.

Meinungen

DSV-Trainer Werner Schuster: "Ich sehe die Gefahr, dass wir den Zuschauer überfordern. Die Frage ist: Vergrault man mit diesen neuen Regeln nicht mehr Zuschauer als mit den Windpausen?"

Schlierenzauer: "Der Zuschauer wird sich wundern, wenn der Athlet mit einem kürzeren Sprung gewinnt. Gewinnen soll der, der am Weitesten springt und die beste Show bietet."

Wolfgang Loitzl: "Das neue System ist nicht schlecht, aber es ist nicht zuschauerfreundlich."

Andreas Goldberger (Ex-Skispringer): "Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist. Skispringen soll ja für die Zuschauer nicht komplizierter werden - das passiert durch die neue Formel zwangsweise."

Wie können die Regeln dem Zuschauer nähergebracht werden?

Über Modifizierungen der Reformen hat sich der ehemalige Skispringer und heutige TV-Experte Dieter Thoma im SPOX-Interview Gedanken gemacht.

SPOX: Herr Thoma, die neuen Regeln waren vor dieser Saison ein großes Thema. Nach Protesten werden sie nun nur bei der FIS Team Tour und dem Nordic Tournament angewendet.

Thoma: Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich viele Athleten dagegen gewehrt haben. Denn durch die Regeln wird ein schlechter Sprung bestraft und ein guter Sprung belohnt. Das kann für einen guten Springer nur zum Vorteil sein! Der Gatefaktor dient allein dem Schutz der Skispringer und der Durchführbarkeit der Wettkämpfe bei verschiedenen Anlaufluken. Der Zufall wird durch den Windfaktor reduziert. Das einzige Problem: Es ist schwierig, den Zuschauern die Regeln erklärbar zu machen, denn auch wenn einer zweimal am weitesten springt, kann es sein, dass er dennoch nicht gewinnt, da er vergleichbar zuviel Aufwind hatte. Das muss der nächste Schritt sein.

SPOX: Welche Möglichkeiten sehen Sie da?

Thoma: Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Ob es graphisch oder im Wort ist, beides muss möglichst einfach und verständlich sein. Bei der Vierschanzentournee sind erfahrungsgemäß mehr Zuschauer als bei den übrigen Weltcupspringen. Darunter sind auch sehr viele Zuschauer, für die ganz klar ist, dass derjenige, der am weitesten springt, auch gewinnt. Die meisten wissen, dass die Haltungsnoten irgendeine Rolle spielen und mit eingerechnet werden. Mit dem Wind- und Gatefaktor könnten zu viele Informationen entstehen, die den Zuschauer verwirren. Es braucht seine Zeit.

SPOX: Vor allem die österreichischen Sportler und Trainer sollen sich gegen die neuen Regeln gewehrt haben.

Thoma: Das ging vermutlich von Schlierenzauer aus. Er sagte schon bei den Tests im Sommer: "Wer am weitesten springt, soll auch gewinnen. Ich brauche die Regeln nicht, bin auch so ganz vorne". Kann ich verstehen, wobei ich hundertprozentig überzeugt bin, dass der gute Skispringer unter dem Strich nur Vorteile hat. Der Wind gehört einfach zum Springen dazu. Es wäre ein Rückschritt gewesen, ihn den Medien und Zuschauern vorzuenthalten. Für mich ist aber wichtig, dass wir uns öffnen und den nächsten Schritt machen. Es geht auch darum, die Wettkämpfe bei unterschiedlichen Wetterbedingungen möglichst fair und durchführbar in einem vernünftigen Zeitrahmen zu gestalten.

SPOX: Die Kritik der Österreicher ist angesichts Ihrer Aussagen nicht zu verstehen. Gerade ihnen sollten die Regeln zu gute kommen.

Thoma: Ja, die Regeln sollen für mehr Gerechtigkeit sorgen und Eintagsfliegen mit zweimal starkem Aufwind wird es unter den neuen Regeln nicht mehr so leicht geben.Gerade bei einem Highlight wie Olympia, worauf man sich Jahre vorbereitet, ist oftmals auch das Glück mit dem Wind zum richtigen Zeitpunkt mit entscheidend über einen Medaillengewinn.

SPOX: Sie unterstützen die Regeln also voll und ganz.

Thoma: Rein sportlich gesehen bin ich von der Idee überzeugt. Das ist eine Innovation, die mögliche Zukunft. Auf der anderen Seite fragt man sich: Welche Weiterentwicklungen sind noch möglich? Sollte man auch die Anlaufgeschwindigkeit hochrechnen, das Gewicht einbeziehen? Da ist auch die Maßgabe der Natur. Die Natur ist halt so wie sie ist. Und Skispringen findet nun mal unter freiem Himmel statt. Da fühlt sich immer jemand benachteiligt. Wo ist der Anfang, wo das Ende? Wichtig ist allerdings eine Entwicklung und da ist die Idee von Walter Hofer ein Quantensprung!

Der Skisprung-Weltcup 2009/2010