Nichts für Weicheier!

Von Bärbel Mees
Beim Rollstuhl-Rugby wird gecheckt, was das Zeug hält - es kommt einem vor wie Autoscooterfahren
© spox

Es ist wieder Themenwochen-Zeit! Nachdem sich bisher immer alles um König Fußball drehte, kommt diesmal die große, bunte Welt des Sports zu ihrem Recht. SPOX hat sich außergewöhnlichen Sportarten angenommen, die nicht so im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Und weil Probieren ja bekanntlich über Studieren geht, haben die Redakteure auch gleich Selbstversuche unternommen. So wie bei Teil 4 unserer Reihe: Rollstuhlrugby. SPOX-Redakteurin Bärbel Mees war zu Gast beim Bundesliga-Verein Munich Rugbears - und lernte viel mehr als nur das Bremsen.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

"Bremseeeen!" schallt es durch die Halle. Zu spät. Mit Schwung fahre ich ein orangenes Hütchen über den Haufen und knalle gegen die Wand. Rollstuhlrugby - mein erster Versuch.

Ich bin beim Training der Munich Rugbears, Rollstuhlrugby auf Bundesliganiveau. Und bin schon nach wenigen Minuten völlig überfordert. Jörg Fischer, Gründungsmitglied und noch immer aktiver Ligaspieler, hat Mitleid und dreht dann doch erstmal noch ein paar Übungsrunden mit mir.

"Der Name Rollstuhlrugby ist nur eine Adaption, damit man sich besser etwas darunter vorstellen kann. Früher hieß es "Murderball", erklärt er. Aha, das beruhigt mich ungemein.

Aber es ist ein passender Begriff. Es wird gecheckt, was das Zeug hält. Zwar ist Körperkontakt verboten, nicht aber das Rammen des gegnerischen Rollstuhls. Das wird mit Inbrunst praktiziert. Gerne auch bei mir. Schonfrist hat man als Anfänger bei den Rugbears nicht lange. Im Gegenteil: Man wird ordentlich rangenommen.

Wie Autoscooterfahren...

Schon wieder rummst es und ich werde gegen die Rückenlehne meines Rollstuhls geschleudert: Zwei Spieler des gegnerischen Teams haben mich spaßeshalber in die Mangel genommen.

Es ist ein bisschen wie Autoscooterfahren, nur ohne schützenden Gummireifen ums Gefährt. Dafür hat man schaufelartige Stoßstangen, mit denen man andere Rollstühle hervorragend blockieren kann.

Theoretisch, denn ich habe den Dreh noch nicht so raus. Vor allem fahre ich meinem Gegner meist hinterher, anstatt ihn wie besprochen von vorne anzugreifen. Mühsam schiebe ich mich über das Spielfeld, aber ich bin einfach zu langsam.

Doch Jörg Fischer hat wie gewohnt die Lösung parat: Keilriemenspray. Auf die Handschuhe aufgetragen, die vor Blasen schützen sollen, verbessert es den Grip auf den Reifen enorm - und spart Kräfte.

Bereit für die Revanche

Ich bin also bereit für den zweiten Versuch, für die Revanche. Im ersten Spiel habe ich einige Möglichkeiten vergeigt. Aber der Ehrgeiz hat mich gepackt. Wie alle anderen.

Nur weil es Behindertensport ist, geht es hier nicht fairer oder weniger ambitioniert zu. Im Gegenteil: Es geht ordentlich zur Sache. Angst vor Verletzungen hat keiner.

"Anfangs ist man skeptisch, ob sich nicht etwas verschlechtert oder man sich leichter verletzen kann. Aber die Stühle sind so gebaut, dass sie selten umfallen", erklärt Hans Bach, ehemaliger Paralympics-Teilnehmer.

Trainiert wird in speziellen Sportrollstühlen. Die schräggestellten Reifen und kleine Stützräder sollen ein Umkippen des Rollstuhles verhindern. Ein Gurt um den Bauch stabilisiert den Oberkörper, der aufgrund fehlender Rumpfmuskulatur sonst hin- und hergeschleudert wird.

Die Stimmung? Bestens!

Meine Mitspieler sind alle Tetraplegiker. Tetras, wie sie sich selbst bezeichnen: Querschnittgelähmt, mit Funktionseinschränkungen an allen vier Extremitäten.

Alle brauchen einen Rollstuhl, um sich fortzubewegen, viele können die Finger nicht bewegen. Ein paar der Spieler sind frisch, also erst seit kurzem behindert, andere schon seit Jahren dabei. Aber Frauen sind Mangelware. Von 14 Spielern ist nur eine weiblich.

"Vielleicht ist es anderen Frauen zu extrem, man muss schon hartgesotten sein", lacht Marita, die über 60 ist, aber gar nicht daran denkt, mit dem Rugbyspielen aufzuhören. "Dann bleibt ja nur noch Elektro-Hockey, das ist langweilig."

Die Stimmung ist überhaupt sehr locker, es wird viel gelacht und gescherzt. Auch über sich selbst. "Aufstehen, Nico. Gar nicht drüber nachdenken, vielleicht passiert ein Wunder", witzelt mein Mitspieler in Richtung Nicolas, dem der Ball davon gerollt ist.

Diagnose: Tetraplegie

Nico ist erst seit drei Monaten im Verein. Vergangenen Sommer rutschte er im Schwimmbad beim Trampolinspringen aus, knallte mit dem Kopf auf die Kacheln: Querschnittgelähmt. Mit 17. Kein Einzelfall. Keiner der 14 Spieler ist von Geburt an behindert. Die meisten hatten im Alter von 18 bis 25 einen Unfall.

Ein Sprung in unbekanntes Gewässer, eine Vollbremsung mit dem Auto bei Glatteis, ein kaputter Tempomat. Ein Moment, der das Leben auf den Kopf stellt, nach dem nichts mehr so ist, wie es war. Halswirbel gebrochen, bei vollem Bewusstsein.

Diagnose: Tetraplegie. Ein halbes Jahr liegen die meisten im Krankenhaus, lernen Rollstuhl zu fahren, ihr Leben neu zu ordnen. Und kommen in Berührung mit Rollstuhlrugby. Alternativen, sich sportlich zu betätigen gibt es kaum. Für Rollstuhlbasketball oder -tennis reicht die Fingerfunktion nicht aus, Tischtennis ist vielen auf die Dauer zu langweilig, zu unspektakulär.

Das regelmäßige sportliche Training bei den Munich Rugbears bringt die Struktur in ihren Alltag zurück, gibt dem Leben wieder einen Sinn und spornt an. "Man sieht, was andere, die vielleicht schwerer behindert sind, erreichen können. Das motiviert", gibt Bach zu.

Volleyball statt Rugby-Ei

Aber um es weit zu bringen, ist einiges an Training nötig. In Extra-Einheiten am Wochenende lernen die Neulinge die Basics: Ballhandling, Fahrtwege, Strategie und natürlich die Regeln.

Die sind im Grunde einfach: Zwei Teams a vier Spieler versuchen in 4x8 Minuten effektiver Spielzeit möglichst oft den Ball über die markierte Torlinie zu bringen und einen Punkt zu erzielen. Zehn Sekunden darf der Ball gehalten werden, bevor er gedribbelt oder gepasst werden muss.

Gespielt wird nicht mit einem für die Tetras schwer zu handelnden Rugby-Ei, sondern mit einem Volleyball, nicht auf einem holprigen Rasen, sondern auf einem Basketball-Feld.

Die Taktik geht selten auf

Das mit den strategischen Fahrtwegen klappt bei uns allerdings nicht wirklich gut. Statt uns an die Absprachen zu halten, fahren wir meistens wirr durcheinander und kommen uns nicht selten selbst ins Gehege.

Die besten Fahrer des anderen Teams versuchen wir zwar zu doppeln, aber so ganz geht unsere Taktik nicht auf. Schon wieder kassieren wir einen Punkt, denn Marina hat es geschafft, sich durch unsere wenig furchteinflößende Abwehrreihe zu mogeln.

Bei den beiden Teams auf dem Nachbarfeld geht es da wesentlich professioneller zu. Die haben allerdings auch eine Schiedsrichterin, die für die Einhaltung der Regeln sorgt und inzwischen auch in der Bundesliga pfeift. Außerdem sind die meisten Spieler seit Jahren im Verein, nicht wenige haben bereits internationale Erfahrung gesammelt. Respekt.

Mein erster Punkt

Aber Zeit, an meine eigene mögliche Weltkarriere im Rugby zu denken, bleibt kaum, denn unser Team ist im Ballbesitz. "Hier, fang", schreit Nico mir zu und wirft den Ball. Ich muss mich weit zur Seite lehnen, um ihn noch zu erwischen, aber ich schnappe ihn mir und packe ihn auf meinen Schoß.

Mit zwei, drei schnellen Schüben bringe ich meinen Rollstuhl in Fahrt und verschaffe mir einen Vorsprung vor der gegnerischen Defense, die den Distanzwurf ein bisschen verschlafen hat.

Und die Zeit rennt, denn nach zwölf Sekunden muss die gegnerische Hälfte erreicht sein. Dauert der Angriff länger als 40 Sekunden, wird abgepfiffen. Inzwischen aber habe ich mich an den Rollstuhl gewöhnt - rechtzeitig rolle ich über die Linie und erziele meinen ersten Punkt für das Team.

Reifenabdruck auf dem Unterarm

Dennoch: Es ist gar nicht so einfach, neben dem Rollstuhl-Handling noch auf die Sekunden-Regeln zu achten.

Während mir die ersten Schweißtropfen von der Stirn rinnen, sehen alle anderen noch völlig entspannt aus.

Der Grund ist keine unmenschliche Fitness, sondern eine mit der Lähmung einhergehende Störung des vegetativen Nervensystems: Tetraplegiker schwitzen nicht.

Aus diesem Grund müssen sie sich regelmäßig mit Wasser besprühen, um die Thermoregulation des Körpers in Gang zu bringen.

Inzwischen neigt sich das Training dem Ende zu. Meine Kraft auch. Mühsam hieve ich mich aus dem Rollstuhl und schiebe ihn in den Geräteraum zurück.

Was bleibt? Schwere Arme, ein Reifenabdruck auf dem Unterarm und das Gefühl, einiges dazugelernt zu haben. Nicht nur, was das Bremsen angeht.

Munich-Rugbears-Mitgründer Jörg Fischer im Interview

 

Alles zu den bisherigen SPOX-Themenwochen