"Sorry, Emotionen müssen mal sein"

Kommentierte Kerbers Grand-Slam-Sieg am Eurosport-Mikrofon: Marco Hagemann
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SPOX: Das Feedback auf Ihren Kommentar war unfassbar positiv. Das kennen Sie aus dem Fußball sicherlich auch anders.

Hagemann: Ich hatte das Glück, nach meinem ersten EM-Qualifikationsspiel für RTL auch gutes Feedback zu bekommen. Aber klar: Im Fußball gibt es eben noch mehr Bundestrainer als im Tennis, der Grat ist noch schmaler und die sozialen Netzwerke sind manchmal auch unsoziale Netzwerke. Diesmal war das Feedback sensationell, das stimmt. Aber da geht es überhaupt nicht um mich - ich stelle meinen Stil vom Fußball zum Tennis auch nicht um. Ich habe so kommentiert, wie ich es gerade gefühlt hatte - und das haben viele andere in diesem Moment auch so gefühlt. Über eine Sache muss man sich im Klaren sein: Ich raste nur so aus, weil da unten Angelique Kerber spielt. Das Ereignis macht den Kommentar, nicht umgekehrt. Natürlich weiß ich es zu schätzen, auch die Tatsache, dass sich Freunde und Kollegen gemeldet und Glückwünsche ausgerichtet haben. Aber der größte Dank gilt Angie Kerber.

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SPOX: Sympathischer als sie kann man sich nach einem solchen Erfolg auch nicht verkaufen, oder?

Hagemann: Ich hatte das Glück, sie zwei Stunden nach dem Match zum Einzelinterview zu treffen. Sie kam rein und wir haben uns erstmal umarmt. Ich glaube, sie hatte es selbst noch gar nicht realisiert, was sie da erreicht hat. Sie hatte auch vom Hype in Deutschland nichts mitbekommen. Sie ist kein Mensch, der permanent den roten Teppich sucht. Sie lebt für den Sport. Es war ihr großer Traum, einmal ein solches Turnier zu gewinnen. So offen und sympathisch sie vor der Kamera war, so ist sie auch privat.

SPOX: Bei der riesigen Resonanz hat man gesehen, wie groß die Tennis-Fangemeinde in Deutschland ist. Davon spürt man nur sehr selten etwas. Was können wir uns von diesem Triumph erwarten?

Hagemann: Ich habe schon gesagt, dass ich auf einen kleinen Tennis-Boom hoffe. Wir leben in einer Zeit, in der der Hype ganz schnell riesig groß ist. Wie jetzt auch bei den Handballern. Leider habe ich nicht viel vom Turnier sehen können, aber es muss eine unfassbare Leistung gewesen sein. Aber wenn sie das nächste Spiel verlieren oder in Rio kein Gold holen, sieht es gleich wieder anders aus. Die Erwartungshaltung ist riesig, dazu kommt diese Schwarz-Weiß-Mentalität.

SPOX: Was meinen Sie damit genau?

Hagemann: Wir dürfen zum Beispiel nicht vergessen, dass eine Julia Görges im Doppel-Halbfinale war. Oder sich Philipp Kohlschreiber über Jahre in den Top 20, Top 30 der Welt hält. Eine herausragende Leistung - aber weil er nicht der Typ a la Thomas Müller mit den lockeren Sprüchen ist, redet kein Mensch darüber. Das hat man auch bei Sabine Lisicki gesehen, als sie im Wimbledon-Finale 2013 stand. Dann hat sie verloren und niemand hat mehr darüber gesprochen.

SPOX: Glauben Sie, dass durch die Erfolge von Kerber, aber auch den der Handballer, Probleme übertüncht werden können? Jetzt sind wieder alle Handball und Tennis, aber die Mehrheit ist zum Beispiel gegen Olympia, der Schulsport wird immer weniger... Insgesamt scheint der Stellenwert des Sports zu sinken.

Hagemann: Natürlich müssen wir uns über die Erfolge freuen - wäre ja schlimm, wenn wir es nicht täten. Aber es stimmt: Wenn zum Beispiel in der Schule Stunden ausfallen, trifft es als Erstes den Sport. Man darf sich jetzt nicht nur im Glanz sonnen, sondern muss weiter hinterfragen: Wie läuft es in der Nachwuchsförderung? Wie vermarktet man den Sport, wie schafft man es, dass die TV-Sender dranbleiben und nicht erst einsteigen, wenn es gut läuft? Tennis ist nicht einfach zu produzieren, weil man nicht weiß, wie lange ein Match dauert - und es ist meines Erachtens auch nicht Auftrag der Öffentlich-Rechtlichen, spätestens ab Viertelfinale mit deutscher Beteiligung einzuspringen. Viel wichtiger ist doch, in die Schulen und in die Vereine zu gehen. Und dass sich Tennis für die breite Öffentlichkeit öffnet mit erschwinglichen Jahresbeiträgen, Tagen der offenen Tür, etc. - auch wenn nicht jeder Profi werden kann. Tennis ist so ein geiler Sport: das direkte Duell Mann gegen Mann, Frau gegen Frau. Ich würde mich freuen, wenn viele gesehen haben, wie Angie Kerber gespielt hat: Mit Fleiß, Zähigkeit, Bissigkeit kann man viel erreichen. Vielleicht hat das bei einigen die Lust geweckt, selbst zu spielen.

SPOX: Wie geht es weiter mit Angie Kerber? Sollten wir nach diesem Durchbruch schon vom nächsten großen Titel träumen?

Hagemann: Wir dürfen nicht den Fehler machen und erwarten, dass sie bei den French Open, in Wimbledon und bei den US Open gewinnt. Ich hoffe einfach, dass wir dranbleiben und uns auch über ein Halbfinale in Indian Wells freuen. Zu den French Open Ende Mai ist es ohnehin noch sehr lang hin. Sicherlich war Sand bisher nicht ihr bester Belag, aber da muss man die nächsten Wochen erst einmal abwarten und sehen, wie sie den ganzen Rummel verdaut. Da kommt noch einiges auf sie zu: Sie war schon vorher auf dem Radar, aber Grand-Slam-Siegerin ist noch einmal eine andere Hausnummer. Serenas Trainer Patrick Mouratoglu meinte noch vor dem Finale: 'Klar, Kerber ist eine gute Spielerin, aber so sehr beeindruckt sie mich auch nicht.' Das sieht jetzt ganz anders aus.

SPOX: Kann der Sieg auch eine Signalwirkung für die übrigen deutschen Tennisdamen haben?

Hagemann: Ganz bestimmt. Das wird inspirierend sein, noch mehr an sich zu arbeiten. Wer als nächste den großen Wurf schaffen kann, wird man sehen. Anna-Lena Friedsam ist 21, Annika Beck ist 21, und wenn Serena irgendwann aufhört, ist das Feld völlig offen. Da wird es auf die Tagesform ankommen, die Auslosung. Vielleicht ist Kerber der letzte Kick für andere, dem Tennis noch einmal alles unterzuordnen.

SPOX: Und wenn wir kurz zu den Herren rüberschauen: Wer kann den Grand Slam von Novak Djokovic verhindern?

Hagemann: Eigentlich nur eine Verletzung. Ich habe gestern einen Tweet gesehen: Selbst wenn man Djokovic alle Weltranglistenpunkte von Grand Slams abziehen würde, dann wäre er immer noch Nummer eins. Vor dem Turnier meinten viele, dass ihm eigentlich nur Milos Raonic und Stan Wawrinka gefährlich werden können. Raonic auf Sand eher nicht, also bleibt nur Stan. Aber ich glaube, dass Djokovic in diesem Jahr alles dran setzen wird, die French Open zu gewinnen. Er ist als Einziger in der Lage, alle vier Grand Slams zu gewinnen und sogar bei Olympia Gold zu holen. Was wurde das belächelt, als er damals Boris Becker ins Team geholt hat. Mittlerweile hat er mit ihm fünf Grand-Slam-Titel gewonnen. Boris hat einen gehörigen Anteil an diesen Erfolgen.

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SPOX: Wir müssen noch einmal auf das Thema Spielmanipulation zu sprechen kommen: Das war gerade zu Beginn des Turniers ein großes Thema. Wie war es in Australien?

Hagemann: Es hat in den ersten Tagen große Wellen geschlagen, aber dann war das Thema durch. Weil es einfach nichts Griffiges gab, stattdessen nur alte Kamellen. Es ist natürlich ein schmaler Grat, weil ein Wettanbieter erstmals bei einem Grand Slam als Sponsor aufgetreten ist, das muss man ganz klar sagen. Und es sind sich alle einig, dass man zum Thema sensibilisieren muss, auch die Junioren. Denn: Die Top 100 können vom Sport gut leben, aber dahinter wird es dünn - so kann der eine oder andere auch mal wanken. Aber den Rest interessiert das nicht. Ob ein Roger Federer noch einmal zwei Millionen mehr oder weniger auf dem Konto hat, das spielt keine Rolle. Gilles Simon hatte den besten Spruch dazu: 'Die bescheißen alle - der Djokovic ist in Wahrheit gar nicht so gut.' Aber wie gesagt: Als keine neuen Informationen aufgetaucht sind, ist das Thema nach ein paar Tagen abgeebbt.

SPOX: Ein letztes Wort zu den Australian Open: Trägt das Turnier den Namen "Happy Slam" zu Recht?

Hagemann: Absolut. Zum einen ist Melbourne eine tolle Stadt, die Anlage ist super und wird ständig vergrößert. Die Veranstalter sind sehr gut organisiert und versuchen, den Spielern jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Zum anderen kommen die Profis aus der Offseason, sie sind fit und haben Bock auf Tennis. Für Journalisten ist es manchmal nicht einfach, weil alles sehr streng gehandhabt wird, aber die Spieler bekommt man alle. Sabine Lisicki zum Beispiel hat einmal sogar spontan ein paar Minuten mit mir kommentiert.

SPOX: Und?

Hagemann: Für sie war es eine ganz neue Erfahrung, aber sie war begeistert: Als Spielerin kennt sie das Ganze ja nur von unten.

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