Willkommen in der Welt der Mutanten

Kein One-Hit-Wonder mehr: Stan Wawrinka
© getty

Mit seinem sensationellen Sieg in Roland Garros hat sich Stanislas Wawrinka aus der Riege der One-Hit-Wonder katapultiert und endgültig als neue Schweizer Nummer Eins etabliert. Es ist der Triumph eines Profis aus einer anderen Zeit. Einer, der die eigenen Grenzen genau kennt - und sie genau deshalb überschreiten kann.

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"Mein Traum war es, erst einmal in Roland Garros zu spielen. Nicht zu gewinnen oder das Finale zu erreichen. Für mich waren die Spieler, die das geschafft haben, Mutanten."

So hatte Stanislas Wawrinka vor dem Endspiel gegen Novak Djokovic seine Ambitionen beschrieben. Nach knapp dreieinviertel Stunden auf dem Philippe Chatrier gegen den besten Tennisspieler der Welt möchte man ihm nun zurufen: "Willkommen in der Welt der Mutanten!" Denn die Leistung, die der 30-Jährige gegen den Djoker bot, war schon fast übermenschlich.

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Es ist schwer genug, in diesem Alter überhaupt noch sein bestes Tennis zu spielen. Aber mit 30 zum ersten Mal das Finale beim wichtigsten Sandplatzturnier zu gewinnen, ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. "Ich hatte nie damit gerechnet, in meiner Karriere so weit zu kommen. So stark zu sein."

"Bin nicht so stark wie die Big Four"

Dass "Stan the Man" das Potenzial hat, die Großen auch einmal zu ärgern, hatte er 2014 bei den Australian Open bewiesen, als er sensationell den Titel holte und die "Big Four" im Staub hinter sich ließ. Auch damals hatte er Djokovic in einem sensationellen Match schlagen können. Aber in die Phalanx der ganz Großen vorzustoßen? Um alle Majors mitzuspielen? Das klappte nicht, damit rechnete ehrlich gesagt niemand - und am allerwenigsten Wawrinka selbst.

Damit schien der Schweizer in der Riege der One-Hit-Wonder festgefahren. In der Welt der Andy Roddicks, Juan Martin del Potros, Thomas Johanssons, Richard Krajiceks. Oder, um auf der roten Asche zu bleiben: In der Welt der Albert Costas, Juan Carlos Ferreros und Gaston Gaudios. Spieler mit mehr oder weniger Talent, die aber alle eins gemeinsam hatten: Nur ein einziges Mal hatte in einem Grand Slam alles gestimmt.

Wer sich den Schweizer genau anschaut, der stellt fest: So schlimm wäre das nicht gewesen für ihn. Er hatte es sich vor eineinhalb Jahren Down Under bewiesen, er hatte es der Welt bewiesen. Und er hatte abseits der vier Majors ja auch weitere Erfolge gefeiert: Einen Davis-Cup-Triumph, Gold im Doppel in Peking. Eine gute Karriere für jemanden, der von sich selbst sagt: "Ich bin nicht so stark wie die Big Four. Sie gewinnen alles."

Djokovic als "Lieblingsgegner"

Aber eben auch jemand, der aus diesem Faktum nicht etwa resigniert hervorgeht, sondern gestärkt. Der aus der Rolle des Underdogs seine Kraft zieht. Weil er gleichzeitig weiß: "Ich bin jedoch stark genug, ab und zu einen großen Titel zu gewinnen. Ich habe es nicht geschafft, in jedem Turnier mein bestes Tennis zu spielen, aber ich bin trotzdem im Reinen mit mir, zufrieden mit meiner bisherigen Karriere.

Stans bestes Tennis. Irgendwie scheint Djokovic dafür prädestiniert, seinem Kumpel Wawrinka, mit dem er auch oft trainiert, dieses beste Tennis zu entlocken. Ganz besonders bei Grand-Slam-Turnieren. Man mag es nicht als "Rivalität" bezeichnen, dazu ist die Bilanz von immer noch 17-4 zu Gunsten des Djokers immer noch zu einseitig. Aber die Aufeinandertreffen in den letzten Jahren waren Klassiker, die fast immer über fünf Sätze gingen.

"Ich weiß, dass er nicht immer gern gegen mich antritt, wenn ich mein Spiel spielen kann", wusste der Sieger dann auch auf der anschließenden Pressekonferenz. "Wenn ich aggressiv spielen kann, fühlt er sich normalerweise nicht wohl." So klingt kein Außenseiter, sondern ein selbstbewusster Herausforderer - der dann auch völlig verdient gewann.

Relikt aus einer anderen Zeit

Wawrinka hat Recht: Er ist nicht dafür prädestiniert, Monat für Monat, Turnier für Turnier ganz oben zu stehen. Als sich im letzten Jahrzehnt die Beläge anglichen, die Spielstile uniformer wurden, setzte sich ein neuer Spielertypus durch: Kein Aufschlagriese oder Sandplatzwühler mehr, sondern ein Allrounder ohne Schwächen, der sich Tag für Tag durch lange Rallies hinter der Grundlinie quälen kann. Drahtig, schlank, mit dem Körper eines Leichtathleten. Eine Entwicklung, die in Djokovic derzeit ihre Vollendung gefunden hat.

Wawrinka ist da schon ein Relikt aus einer anderen Zeit. Für einen Tennisspieler wirkt er fast zu stämmig, zu muskulös. Technisch nicht immer perfekt ausgereift, zu fehleranfällig. Aber eben auch mit einer urgewaltigen Power ausgestattet - einer der wenigen, die ihre Grundschläge durch die Defense eines Djokers oder Murrays im wahrsten Sinne des Wortes durchprügeln können. Wenn das "Stanimal" einen dieser Tage erwischt, eine dieser Sternstunden auf dem Court, in denen auch die Rückhand aus dem Lauf heraus um den Netzpfosten herum noch den Weg ins Feld findet, dann ist alles möglich.

"Beste einhändige Rückhand auf der Tour"

Am Sonntag war es nach eineinhalb Jahren wieder einmal soweit - und so musste sein Kontrahent dann auch neidlos anerkennen, dass an diesem Tag nichts möglich war. "Ich hätte in manchen Momenten wahrscheinlich besser spielen können, aggressiver. Aber er hat es verdient", so Djokovic. Die Nummer eins der Welt hatte tatsächlich nur selten das gewohnte Level abrufen können. Vielleicht eine Folge des "Nachsitzens" gegen Murray am Samstag - es war sein dritter Tag in Folge auf dem Chatrier, eine enorme Belastung. Vielleicht auch eine Folge der Nervosität.

Aber definitiv eben auch dem Gegner geschuldet. "Er hat wahrscheinlich die beste einhändige Rückhand auf der Tour. Keine Frage, das ist eine der besten einhändigen Rückhände, die ich im Tennis je gesehen habe", staunte er über die brettharten Geschosse des neuen Weltranglistenvierten. Vor einigen Jahren hätte man das noch über Roger Federer gesagt. Jetzt, kaum zu glauben, ist der wohl endgültig nur noch die Nummer zwei im eigenen Land.

Standing Ovations für den Djoker

Man muss es Nole hoch anrechnen, dass er sich in der vielleicht bittersten Niederlage seiner Karriere so sympathisch präsentierte wie nur irgend möglich: "Manche Dinge sind wichtiger als Siege: Charakter und Respekt. Ich habe großen Respekt vor dir, Stan." Kein Wunder, dass selbst das wankelmütige Pariser Publikum seinen Auftritt mit minutenlangem Applaus honorierte.

Djokovic wird es im kommenden Jahr wieder versuchen, seine Chancen auf den Career Grand Slam stehen im Alter von 28 Jahren weiter gut. In Wimbledon wird er als Topfavorit an den Start gehen, und womöglich Major-Titel Nummer neun einfahren.

Man weiß nie, was man kriegt

Und Wawrinka? Schwer zu sagen, wie immer. Nach seinem Sieg in Melbourne kassierte er im vergangenen Jahr in Paris eine unerwartete Erstrundenschlappe. Weiter als in die Runde der letzten Acht hat er es auf dem Heiligen Rasen noch nie gebracht. "Es ist sehr interessant ihm zuzuschauen, weil man nie weiß, was einen erwartet. Diese Woche haben wir die Größe von Stan gesehen, aber nächste Woche könnte es schon wieder ganz anders aussehen", sagt niemand Geringeres als Coach Magnus Norman.

Vielleicht ist bei den All England Championships also schon früh Schluss, nach dieser Leistung, nach all dem Trubel. Vielleicht kommt wieder das "Stanimal" zum Vorschein. Vielleicht etwas dazwischen. So oder so, er wird damit gut leben können. "Als Tennisspieler musst du dich daran gewöhnen, jede Woche zu verlieren", sagte er im Interview mit SPOX. "Aber es kommt darauf an, dass du das Positive aus den Niederlagen ziehst und dich dadurch verbesserst."

Bis eben alles passt, man als krasser Außenseiter nach Paris reist - und dann gar nicht verliert. Daran könnte sich Stanislas Wawrinka sicher auch gewöhnen.

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