Großbritannien - die neue Tennismacht?

Von Florian Regelmann
Der Brite Oliver Golding gewann die Junioren-Konkurrenz bei den US Open
© Getty

Ausgerechnet Tenniszwerg Großbritannien besitzt genau das, was sich Deutschland aktuell sehnlich wünscht: Supertalente en masse. Noch besteht das britische Tennis fast ausschließlich aus Superstar Andy Murray, aber das könnte sich sehr bald ändern. Ex-Star Greg Rusedski hat einen großen Anteil am britischen Aufschwung.

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Großbritannien hat den Davis Cup gewonnen. Es ist eine Schlagzeile, bei der sich innerhalb einer Millisekunde sofort der Verstand bei einem meldet und heftig interveniert, weil diese News eigentlich in den Bereich der völlig unmöglichen Dinge gehört.

Spanien und Argentinien werden sich Anfang Dezember im Finale gegenüberstehen, Großbritannien ist selbst von der ersten Runde der Weltgruppe meilenweit entfernt. Aktuell spielt die britische Mannschaft in einem Ungetüm, das sich "Gruppe II, Europa-Afrika-Zone" nennt.

Um einen Eindruck zu geben, welche Powerhouses sich dort treffen: Die Gegner der Briten hießen in diesem Jahr Tunesien, Luxemburg und Ungarn. Das Gute: Da sich Andy Murray wieder zur Verfügung gestellt hat, konnte Großbritannien alle Runden deutlich gewinnen. Man kommt also langsam nach oben.

Nach Murray die totale Leere

Dennoch ist die Situation im britischen Herren-Tennis insgesamt natürlich alles andere als rosig. Superstar Murray ist die Nummer vier der Welt und wird früher oder später, auch wenn ihm das viele Experten nicht zutrauen wollen, sein erstes Grand-Slam-Turnier gewinnen. Es wird passieren.

Aber Murray ist nicht nur die Nummer vier der Welt, er ist der einzige Brite in den Top 100. Noch schlimmer: Die einzigen anderen Briten, die in den Top 300 auftauchen, sind James Ward und Jamie Baker. Murray kann spielen, wie er will, Großbritannien wird so selbstredend nie im Leben einmal den Davis Cup gewinnen.

Aber: Großbritannien hat den Davis Cup bereits gewonnen. In diesem Jahr. Erst vor wenigen Wochen. Und zwar bei den Junioren! Es war ein echtes Ausrufezeichen, das die junge Garde der Briten in Mexiko setzte.

Nachdem Großbritannien in der Gruppenphase unter anderem Deutschland mit 3:0 abfertigte, folgte im Halbfinale ein 3:0-Erfolg gegen Frankreich. Spätestens bei diesem Resultat muss man kurz zucken, sind die Franzosen doch seit langem die Vorzeigenation in Sachen Nachwuchsarbeit.

Juniors Davis Cup: Finalsieg gegen Italien

Im Finale setzten sich die Briten dann gegen Italien durch. Schon nach den beiden Einzeln war die Sache gegessen. Großbritannien holte sich zum ersten Mal in der Geschichte den Junioren-Davis-Cup.

Noch beeindruckender wird die Situation, wenn man weiß, dass das siegreiche Team der Briten um die 16-jährigen Evan Hoyt, Kyle Edmund und Luke Bambridge nur die zweite Welle der Talente von der Insel ist.

Die Hot-Shots, die schon einen Schritt weiter sind, heißen Oliver Golding (18 Jahre), George Morgan (18 Jahre) und Liam Broady (17 Jahre). Die Nummern zwei, acht und zwölf der Junioren-Weltrangliste. Nur die Briten haben gleich drei Jungs unter den Top 12 der besten Nachwuchsspieler.

Drei Jungs im US-Open-Halbfinale

Ganz deutlich zeigte sich der Aufschwung nicht nur durch den Davis-Cup-Triumph bei den Junioren, sondern auch bei den US Open in Flushing Meadows. In der Junioren-Konkurrenz kamen gleich drei der vier Halbfinalisten aus Großbritannien: Golding, Morgan und Edmund.

Golding holte sich am Ende sogar den Titel, Morgan war bereits bei den Australian Open im Junioren-Halbfinale gestanden, Broady erreichte 2011 das Junioren-Finale in Wimbledon.

Es soll an dieser Stelle nicht vergessen werden, dass der DTB mit Robin Kern (Nr. 13 der Junioren-Weltrangliste, 2011 Junioren-Viertelfinale bei den French Open und in Wimbledon) auch ein hoffnungsvolles Talent hat. Dennoch: Was die unfassbare Dichte bei den Briten angeht, kann man aus deutscher Sicht schon neidisch werden.

Watson und Robson bei den Damen auf dem Vormarsch

Zumal das britische Tennis nicht nur im Herren-Bereich aus dem Dornröschenschlaf erwacht ist. Mit Heather Watson und Laura Robson gibt es zwei Spielerinnen, die auf dem Weg in die Weltspitze sind.

Die 19-jährige Watson (aktuell die Nr. 89 der Welt) hatte bei den US Open Maria Scharapowa schon am Rande der Niederlage. Und die erst 17-jährige Robson (132 der Welt), die schon mit 14 den Juniorinnen-Wettbewerb in Wimbledon gewann, ist noch talentierter.

Wie immer im Leben entsteht Erfolg nicht per Zufall. Und schon gar nicht per Knopfruck. Der britische Aufschwung hat Gründe. So wurde 2007 im Londoner Stadtteil Roehampton das National Tennis Centre (NTC) eröffnet, ein hochmodernes Leistungszentrum mit 22 Courts für alle britischen Top-Spieler.

Rusedski als Coach erfolgreich

Und was den enormen Erfolg der britischen Jungs angeht, so ist dieser in erster Linie ganz eng mit einem Namen verbunden: Greg Rusedski. Der 38-jährige gebürtige Kanadier, der zu seiner besten Zeit einmal die Nummer vier der Welt war und der für Großbritannien im Davis Cup antrat, ist der Coach der britischen Junioren.

Rusedski scheint der perfekte Mann für den Job zu sein. Er hat es vor allem geschafft, in der kritischen Altersstufe zwischen 15 und 18 Jahren all seinen Jungs eine große Professionalität einzuimpfen.

"Mir macht mein Job einen Riesenspaß. Ich denke, dass ich den Jungs gut helfen kann, weil ich viel Erfahrung gesammelt habe. Ich weiß, was man braucht, um es auf die Tour zu schaffen", erklärt Rusedski.

Rusedski will etwas zurückgeben

Besonders Rusedskis Motivation, den Job zu übernehmen, gilt es herauszustellen. Ihm geht es darum, etwas zurückzugeben. Seinem Sport. Aber auch seinem Land. "Ich habe großes Glück gehabt, eine Karriere im Tennis machen zu dürfen und mir bereitet es Freude, jetzt etwas zurückzugeben. Ich will es vor allem soweit bringen, dass niemand mehr gerne gegen britische Spieler antreten will", sagt Rusedski.

Natürlich muss man bei aller Euphorie, die sich in Großbritannien beginnt, breit zu machen, vorsichtig sein.

Der Schritt vom Junioren- zum Herren-Tennis ist gewaltig, es gibt keine Garantie dafür, dass es die britischen Top-Talente auf die Tour schaffen. Ob vielleicht sogar einer dabei ist, der ähnlich weit kommen kann wie Murray? Wer weiß.

Fakt ist, dass die Vorzeichen für eine neue Tennismacht Großbritannien nicht viel besser stehen könnten. Alle Talente scheinen sowohl mental schon sehr reif zu sein als auch vom Spielerischen die unabdingbare Power und Physis für das heutige Herren-Tennis zu besitzen. Herumgesprochen haben sich ihre Namen schon, ein gewisser Rafael Nadal hat beispielsweise sicher nicht umsonst in diesem Jahr in Wimbledon drei Tage in Folge mit Evan Hoyt trainiert.

Kurzum: Gut möglich, dass der Verstand die Schlagzeile "Großbritannien gewinnt den Davis Cup" in den nächsten zehn bis 15 Jahren einmal als völlig normal interpretiert...

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