"Djokovic ist der kompletteste Spieler aller Zeiten"

Von Interview: Florian Regelmann
Novak Djokovic hat 2011 eine außerirdische Bilanz von 57-2
© Getty

Tennis-Guru Nick Bollettieri spricht mit SPOX über die anstehenden US Open. Der 80-Jährige über die Dominanz von Novak Djokovic, ein Rezept für Roger Federer und die Gründe, warum Andy Murray seiner Meinung nach nie einen Grand-Slam-Titel gewinnen wird.

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SPOX: Herr Bollettieri, die US Open stehen vor der Tür und Novak Djokovic steht 2011 bei 57 Siegen in 59 Matches. Kann man überhaupt gegen ihn setzen?

Nick Bollettieri: Nur sehr schwierig. Novak Djokovic ist ohne Frage der Favorit und er ist auch mein Tipp. Mein Gott, der Junge hat allein in diesem Jahr fünf Mal gegen Rafael Nadal gewonnen. Er schlägt die besten Spieler der Welt - und das in einer Zeit, in der wir eine viel größere Breite in der Spitze haben als in den 80er oder 90er Jahren. Soll ich Ihnen mal etwas sagen?

SPOX: Aber bitte doch.

Bollettieri: Ich lehne mich mal ganz weit aus dem Fenster und behaupte, dass Djokovic der kompletteste Spieler aller Zeiten ist. Kraft, Schnelligkeit, Technik - niemand hat je so ein Paket gehabt wie Djokovic. Und der entscheidende Grund, warum er so stark wurde, ist sicher sein neues Trainingsprogramm, inklusive seiner Diät und Ernährungsumstellung (bei Djokovic war eine Gluten-Unverträglichkeit festgestellt worden, Anm. d. Red.). Die meisten Leute dachten, er würde einfach nicht hart genug trainieren, aber seit dieser Umstellung ist er physisch auf einem ganz neuen Level. Je länger der Punkt geht, je länger das Match geht, desto stärker wird Djokovic. Aber: Niemand außer Gott gewinnt die ganze Zeit. Wir werden sehen, wie es weitergeht.

SPOX: Was für Probleme könnten auf Djokovic zukommen?

Bollettieri: Das Schwierigste für Djokovic? Jeden einzelnen Tag trainiert die ganze Welt für ein Ziel: ihn zu schlagen. Ihn zu schlagen und damit berühmt zu werden. Das betrifft vor allem die Leute, die um Rang 30 oder 40 in der Weltrangliste stehen. Oder auch Qualifikanten. Sie alle wollen Djokovic abschießen. Kann er mental damit umgehen und so weitermachen wie jetzt? Das ist die entscheidende Frage.

SPOX: Kommen wir zu seinen großen Herausforderern. Rafael Nadal macht in der Vorbereitung auf die US Open aktuell keinen wirklich hervorragenden Eindruck. Wie sehen Sie seine Situation?

Bollettieri: Nadal arbeitet so hart. Er gibt keine 100 Prozent, er gibt 200 Prozent. Und zwar immer. Wie lange kann sein Körper und auch sein Kopf das so weiter durchziehen? Das ist das große Fragezeichen bei Nadal. Er hat jetzt auch ein paar Mal gegen Spieler verloren, die nicht ganz oben stehen. Ich frage mich, ob das Spuren hinterlassen wird. Wenn Nadal anfängt, an sich selbst zu zweifeln, dann könnte er ein Problem bekommen.

SPOX: Nadal hat immerhin wieder die French Open gewonnen in diesem Jahr. Roger Federer wartet seit den Australian Open 2010 auf seinen nächsten Grand-Slam-Erfolg. Wird dieser überhaupt noch kommen?

Bollettieri: Es mag einige Leute geben, die ihn abschreiben, aber ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass Federers Zeit abgelaufen ist. Trotzdem: Die Uhr tickt und es macht mir den Anschein, dass jeder seine Schwäche auf der Rückhand-Seite ausnutzt. Paul Annacone war lange Schüler bei mir und ist ein Genie. Er hat mit Pete Sampras gearbeitet und ist jetzt an der Seite von Federer. Das tut Roger gut. Ich bin mir sicher, dass er bei den US Open eine große Show abliefern wird. Schreibe niemals Roger Federer ab!

SPOX: Sehen Sie spielerisch einen Unterschied, wenn Sie den aktuellen Roger Federer mit dem Roger Federer zu seiner absoluten Glanzzeit vergleichen?

Bollettieri: Sein Problem ist nicht, dass er so viel schlechter spielen würde als vor ein paar Jahren. Sein Problem ist, dass er es mit ganz anderen Kalibern zu tun bekommen hat. Plötzlich war Nadal da, dann tauchen Leute wie Djokovic und Andy Murray auf. Und am Horizont sind schon Youngster wie Bernard Tomic, Milos Raonic oder Ryan Harrison zu sehen. Die Konkurrenz ist brutal hart. Aber ich gehe davon aus, dass Federer in New York stark sein wird. Ich erwarte, dass er bei den US Open viel mehr attackieren wird. Er kann in der heutigen Zeit keinen Grand-Slam-Titel mehr gewinnen, wenn er nur an der Grundlinie bleibt. Er muss mehr attackieren. Das ist der Schlüssel. Und ich glaube, dass er intelligent genug ist, um das zu erkennen und sein Spiel dahingehend zu verändern.

SPOX: Könnte es aber nicht auch sein, dass Tennis nicht mehr den Stellenwert für ihn hat und sich seine Prioritäten verschoben haben? Wäre doch nur natürlich, nachdem die Zwillinge zur Welt gekommen sind.

Bollettieri: Das denke ich nicht. Federer ist eine ganz besondere Persönlichkeit, ein unglaublich sympathischer Mensch. Glauben Sie mir, wenn sich seine Prioritäten verändert hätten, dann wäre er zurückgetreten. Er will weiter mit aller Macht Grand Slams gewinnen, daran hat sich nichts geändert.

SPOX: Andy Murray wäre froh, wenn er endlich sein erstes Grand-Slam-Turnier gewinnen würde. Der Schotte war schon einige Male nahe dran, wann wird es für ihn soweit sein?

Bollettieri: Nie.

SPOX: Wie bitte? Andy Murray hat alles, was ein großer Champion braucht.

Bollettieri: Schauen Sie, Andy Murray ist ein großartiger Charakter, ähnlich wie es mein Andre Agassi früher war. Aber warum übernehmen Sie nicht einfach das, was Boris Becker über ihn gesagt hat. "Andy Murray hat keine Waffe und wird nie einen Grand-Slam-Titel holen", das sind Boris' Worte. Und ich schließe mich an. Murray hat seine Vorhand und seinen Aufschlag verbessert, seine Beinarbeit ist fantastisch, er ist ein überragender Returnspieler, er hat eine Weltklasse-Rückhand, aber um ein Grand-Slam-Turnier gewinnen zu können, müsste er ein bisschen offensiver spielen. Die Frage ist, ob er die Waffen hat, um ein ganz großes Ding zu gewinnen? Ich glaube nicht. Vor allem auch deshalb nicht, weil es so viele andere starke Jungs gibt. Es wird nicht leicht für Murray.

SPOX: Die Frage ist aber dann, wer denn außer Djokovic, Nadal und Federer für einen Triumph in Frage kommt. Wenn Sie es Murray nicht zutrauen, wer wären dann die Kandidaten außerhalb der Top-3?

Bollettieri: Es gibt einige Spieler, auf die man aufpassen sollte. Tomic ist ein Kandidat. Ich werde bei den US Open etwas Zeit mit ihm verbringen, er muss das Selbstvertrauen in seine Vorhand zurückbekommen, dann können wir einiges erwarten. Das gleiche gilt für Raonic. Ernests Gulbis fängt auch wieder an, gut zu spielen. Und dann haben wir noch Juan Martin del Potro, der der Welt zeigen will, dass er auch noch da ist. Del Potro nimmt den Ball so früh, wenn er wieder in Bestform kommt, kann er seine Gegner wie kaum ein anderer dominieren. Wir müssen uns nur daran erinnern, wie er Nadal damals bei den US Open vom Platz gefegt hat. Und dann gibt es noch jemanden...

SPOX: ... stopp, jetzt kommt sicher Mardy Fish.

Bollettieri: (lacht) Genau. Passt mir auf den alten Mann auf! Mardy Fish ist sensationell gut in Form, ist voller Selbstvertrauen und kann an einem starken Tag jeden gefährden. Und warum ist er so gut drauf? Weil er attackiert, attackiert und attackiert. Fish ist für eine Überraschung gut, aber da gibt es noch einige mehr. Heutzutage weiß man einfach nicht mehr, was zur Hölle passieren wird.

SPOX: Fish ist aktuell der einzige US-Boy in den Top 10. Andy Roddick hatte Verletzungsprobleme und ist im Grunde völlig außer Form. Wie ist der Zustand des US-Tennis bei den Männern?

Bollettieri: Die USTA macht einen hervorragenden Job, aktuell wird eine Menge Geld in ein neues Nachwuchsförderungsprogramm (10 and Under Tennis, Anm. d.Red.) investiert. Wir müssen schauen, dass wir die Kinder, die athletisch die besten Voraussetzungen mitbringen, ganz früh zum Tennis bringen. Nicht zum Football. Nicht zum Basketball. Aber unser großes Problem ist, dass Tennis verdammt noch mal zu teuer geworden ist. Ein Racquet und ein paar Tennisschuhe kosten 250 Dollar, bevor man überhaupt auf dem Court steht. Wir müssen Athleten finden und sie dann finanziell unterstützen.

SPOX: Ihre Academy hat immer wieder große Talente herausgebracht, das weiß jeder. Das hoffnungsvollste Talent, das auch schon auf der Tour erste Duftmarken setzt, heißt Ryan Harrison. Wie weit ist er?

Bollettieri: Ich bin davon überzeugt, dass er das Zeug zum Grand-Slam-Champion hat. Er braucht aber noch Zeit. Auch in seinem Fall habe ich ihm eine klare Anweisung gegeben: Bewege deinen Hintern ans Netz! Du besiegst einen Djokovic nicht von der Grundlinie. Ryan bringt sehr viel mit. Wuchtige Vorhand, starker Aufschlag, er fühlt sich wohl am Netz - er muss aber noch lernen zu attackieren und er muss seine Emotionen besser kontrollieren. Das ist bislang immer seine größte Schwäche gewesen.

SPOX: In Deutschland wären wir froh, wenn wir einen 19-jährigen Youngster wie Harrison mit so viel Potenzial hätten. Ihr "Boy" Tommy Haas ist aktuell die Nummer 503 der Welt. Es wird schon gemunkelt, dass er nur noch sein Lieblingsturnier in NY spielt und dann Schluss macht.

Bollettieri: Das Wort Rücktritt sollten wir im Falle von Tommy nicht in den Mund nehmen. Er ist ein tougher Junge. Aber wir brauchen nach all seinen Problemen bei den US Open ohne Zweifel eine Art Durchbruch. Ich werde in New York ein wenig mit ihm arbeiten und wir müssen schauen, dass er sein Selbstvertrauen in seine Vorhand wiederfindet. Seine Vorhand ist nicht die gleiche wie früher. Er lässt den Schläger nicht richtig durchschwingen, sondern will es mit Gewalt erzwingen. Wir wissen alle, was für eine wunderschöne Rückhand er hat, aber seine Vorhand muss wieder mehr Power bekommen. Hoffentlich wird er bei den US Open ein gutes Turnier spielen, dann sehen wir weiter.

SPOX: Zu guter Letzt noch ein Wort zu Sabine Lisicki. Was sagen Sie zu Ihrem Comeback?

Bollettieri: Ich bin sehr stolz auf mein Mädchen Sabine. Sie ist zwischenzeitlich aus den Top 200 gefallen und war wirklich down. Wie sie nach dieser schwierigen Zeit zurückgekommen ist, das war stark. Mit Sabine, Andrea Petkovic und Julia Görges habt ihr drei Mädels, die hoffentlich als Inspiration für das deutsche Tennis dienen können.

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