Der Tennis-Beckham

Von Florian Regelmann
Andy Murray ist die große Tennis-Hoffnung der Briten
© Getty

Wer ist eigentlich der Topfavorit für die Australian Open in Melbourne? Es ist nicht Roger Federer oder Rafael Nadal. Es ist Andy Murray. Der Mann der Stunde im SPOX-Porträt.

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Wer den Tennisspieler Andy Murray kennenlernen will, muss zu allererst einmal wissen, dass es den Menschen Andy Murray beinahe viel zu früh gar nicht mehr gegeben hätte.

Es war der 13. März 1996, als Thomas Hamilton mit einer Browning-Pistole vom Kaliber 9mm in der schottischen Kleinstadt Dunblane in eine Schule ging und ein Massaker anrichtete. Er tötete 16 Kinder zwischen fünf und sechs Jahren, einen Lehrer und richtete sich anschließend selbst.

Andy Murray und sein älterer Bruder Jamie besuchten diese Schule. Sie kannten den Attentäter sogar persönlich. Er war der Leiter einer örtlichen Jugendgruppe und die Murrays hatten ihn einige Male im Auto mitgenommen.

Tragödie in Dunblane

Zum Zeitpunkt der schrecklichen Ereignisse versteckten sich die Murray-Brüder in einem Klassenzimmer. "Ich habe keine wirkliche Erinnerung an diesen Tag, weil ich mit acht Jahren noch zu klein war. Das war mein Glück. Wäre ich älter gewesen, hätte es sicher für mein ganzes späteres Leben Wunden hinterlassen", sagt Murray heute.

Der Schotte bekam ein "zweites Leben" geschenkt und verlebte in der Folge eine normale Kindheit. So normal sie eben sein kann, wenn es sich ein dickköpfiger Junge in den Kopf gesetzt hat, einmal der beste Tennisspieler der Welt zu werden.

Murray war von Beginn an äußerst ehrgeizig und temperamentvoll. Ein Beispiel: Bei einem Jugendturnier in Edinburgh stand der Vater seines Gegners hinter dem Zaun und applaudierte bei jedem Doppelfehler von Murray.

Murray und sein Temperament

Der Zorn schwoll an, so dass sich Mama und Oma Murray schon einmal unbemerkt verzogen, weil sie genau wussten, was jetzt gleich passieren würde. Murray drehte sich um und feuerte einen Ball gegen den Zaun - genau an die Stelle, wo der "Feind" stand.

Das Match wurde unterbrochen, der Referee kam auf den Platz und Murray sollte sich entschuldigen. "Es tut mir leid. NEIN, es tut mir überhaupt nicht leid!", antwortete Murray.

Er gehörte damals schon zu den größten Talenten im internationalen Tennis, aber er hatte ein Problem und das ging ihm mächtig auf die Nerven. Er hatte mitbekommen, dass Rafael Nadal in Spanien mit Topstars wie Carlos Moya trainieren durfte. Den einzigen brauchbaren Trainingspartner, den er hatte, war sein Bruder Jamie. 

Der Wechsel nach Spanien

So entschloss sich Murray das Elternhaus zu verlassen und nach Spanien in die Sanchez-Casal-Academy zu gehen. Das Heimweh war groß, der Ehrgeiz noch größer, so dass sich Wechsel auszahlen sollte.

Murray gewann mit 17 Jahren die Junioren-Konkurrenz der US Open, bevor er 2005 seinen ersten großen Auftritt in Wimbledon hatte. Als Nummer 374 der Welt besiegte er den an 14 gesetzten Tschechen Radek Stepanek. Erst in Runde drei schied er nach einer 2:0-Satzführung gegen David Nalbandian aus Argentinien aus.

Dennoch: England hatte seinen neuen Helden. Andymonium war geboren, der Murray Mound formerly known as Henman Hill errichtet. Dieser Junge, dachten sich die Engländer, soll - wenn es Tim Henman schon nicht geschafft hat - doch bitte der Erste sein, der seit Fred Perry 1936 mal wieder für einen britischen Triumph in Wimbledon sorgt.

"Auf keinen Fall England"

Noch warten sie. Die Beziehung zum Schotten Murray war auch seitdem nicht ganz ungetrübt. So antwortete Murray vor der Fußball-WM 2006 auf die Frage, wem er denn die Daumen drücken würde: "Auf keinen Fall England."

Murray versuchte alles, um die Wogen  zu glätten, indem er sagte, dass dies ja nur ein Spaß gewesen sei und er wegen seiner Vorfahren ja auch zu einem Viertel Engländer sei. Die Droh-Briefe hatte er zu diesem Zeitpunkt aber schon erhalten.

Nicht nur wegen dieser Episode fiel es den Engländern, aber auch vielen anderen Tennis-Fans, schwer, Murray ins Herz zu schließen. Sein Beliebtheitsstatus hielt sich arg in Grenzen.

Was sollte man mit diesem komischen Kauz anfangen, der immer notorisch unzufrieden ist, mit dementsprechendem Gesicht schlecht gelaunt über den Platz zu schlürfen scheint und sich und seine Box aufs Übelste zutextet?

Aufschlag und Fitness enorm verbessert

Murray war ein 1,90 Meter großes Tennis-Genie, das spielerisch alles drauf hat, was man sich nur wünschen kann. Ein sensationeller Taktiker, der nicht nur alle Schläge beherrscht, sondern auch wie kein anderer mit Köpfchen spielt.

Zur Spitze fehlte aber noch eine ganze Menge. Erst mit der Trennung von Brad Gilbert kam die Wende. Murray heuerte Miles Maclagen als neuen Coach an und baute das "Team Murray" auf. Dazu gehören die Fitness-Experten Jez Greene und Matt Little, Physiotherapeut Andy Ireland sowie Louis Cayer, der als Berater in Sachen Spieltaktik fungiert.

Zwei Faktoren seines Spiels haben sich seitdem enorm verbessert. Zum einen ist Murray fit wie nie zuvor und hat zur neuen Saison drei Kilogramm Muskelmasse zugelegt. Das Resultat von knüppelhartem Training in Florida, wo er an der Universität von Miami seine Schnelligkeit, Ausdauer und Kraft trainierte.

Zum anderen ist Murrays Aufschlag so stark wie nie zuvor. Ein exzellenter Return-Spieler war er schon immer, aber seit geraumer Zeit gewinnt er nun auch seine eigenen Aufschlagspiele mit einer überragenden Quote. Vor allem dank vieler freier Punkte mit dem Service.

Selbstvertrauen ohne Ende

Kombiniert mit der Tatsache, dass er zumindest etwas gelassener geworden ist auf dem Platz, ergibt das den besten Murray aller Zeiten. Einen, der endlich an sich glaubt.

"Wenn ich auf den Platz marschiere, weiß ich, dass ich jeden schlagen kann, wenn ich mein bestes Tennis spiele. Vorher war das nicht so der Fall. Da dachte ich, ich müsste perfekt spielen, nur um nahe dran zu sein. Meine Chancen auf einen Grand-Slam-Sieg waren noch nie so gut", erklärt Murray.

Bei seinem ersten Grand-Slam-Finale im vergangenen Jahr bei den US Open verlor er noch klar gegen Roger Federer. Doch seitdem hat er den Schweizer viermal in Folge besiegt.

Angst vor Federer? Das war einmal. Da Nadal in Australien noch nie im Finale war und Titelverteidiger Novak Djokovic mehr damit beschäftigt zu sein scheint, sich an einen neuen Schläger zu gewöhnen, ist Murray für viele der Topfavorit bei den Australian Open.

Neues Management

Zur Überraschung von Federer auch bei den Buchmachern. "Andy hat noch nie einen Slam gewonnen. Das ist eine andere Stufe, die er erst noch nehmen muss. Nicht viele Spieler haben in den vergangenen Jahren einen Slam gewonnen. Die meisten haben Rafa und ich unter uns ausgemacht", meint Federer etwas trotzig.

Murray wird diese Aussage nicht stören. Er weiß, dass er Schritt für Schritt gehen muss und auf dem richtigen Weg ist.

Das haben mittlerweile auch ganz andere erkannt. Vor kurzem unterschrieb Murray einen Vertrag bei 19 Entertainment, der Management-Firma von Simon Fuller. Fuller, seines Zeichens Erfinder der Castingshow Pop Idol (Deutschland sucht den Superstar), betreute früher die Spice Girls und managt heute noch David Beckham.

Fullers Vorhaben: Er will die Marke "Andy Murray" auf globaler Ebene groß machen. Er hat gesehen, dass da womöglich ein junger Schotte in den nächsten Jahren an die Tür zum Weltstar klopft.

"Ich spiele noch bei weitem nicht mein bestes Tennis. Das wird wohl noch ein Jahr dauern, bis das soweit ist", meinte Murray vor wenigen Tagen. Fast klingt es nach einer Drohung.       

Der Stand in der ATP-Weltrangliste