Der Patron unter Beschuss

Kommt es in den Alpen zum Zweikampf zwischen Froome (l.) und Herausforderer Quintana?
© getty

Nach ihrem letzten Ruhetag geht die Tour de France am Mittwoch in ihre entscheidende Phase: Vier Alpenetappen, darunter die mythischen Serpentinen von Alpe D'Huez, warten auf Spitzenreiter Chris Froome und die Verfolger um Nairo Quintana und Alberto Contador. Kann das Maillot Jaune des Briten noch einmal in Gefahr geraten? Die schärfsten Gegner lauern womöglich abseits der Strecke.

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Seine größte Schrecksekunde im bisherigen Tour-Verlauf musste Spitzenreiter Chris Froome wenige Kilometer vor Ende der 16. Etappe verdauen. Bis dato hatte der Patron eines überragenden Sky-Rennstalls die Konkurrenz zwar nicht deklassiert, aber auf den Bergetappen zumindest souverän distanziert. So erlaubte er auch diesmal lediglich dem im Gesamtklassement abgeschlagenen Titelverteidiger Vincenzo Nibali ein paar Sekunden Zeitgewinn auf dem Steig zum Col de Manse - Quintana, Contador und Co. hatte er unter Kontrolle.

In der rasanten, tückischen Abfahrt zum Ziel in Gap, die schon 2003 Lance Armstrong und Joseba Beloki zu Querfeldein-Ausritten gezwungen hatte, hätte es dann aber böse für ihn ausgehen können - also nicht für ihn persönlich, sondern für seinen Edelhelfer Geraint Thomas. Der 29-Jährige, auf der Bahn mehrfacher Olympiasieger und Sechster der Gesamtwertung, wurde in einer Haarnadelkurve vom unvorsichtigen Franzosen Warren Barguil touchiert und abgedrängt.

Der hilflose Thomas schlitterte daraufhin zwischen die Zuschauer und fiel über ein Absperrband eine steile Böschung hinunter - dass er währenddessen auch noch Bekanntschaft mit einem Telefonmast machte, passte ins Bild.

Glück im Unglück

Man fühlte sich an Jan Ulrichs Sturz von 2001 erinnert. Und glücklicherweise ging auch dieser Sturz erstaunlich glimpflich aus. Thomas saß hinter der Favoritengruppe schnell wieder im Sattel, verlor nur eine gute halbe Minute auf den letzten Kilometern und verteidigte sogar seinen sechsten Platz. "Ich bin in Ordnung. Wahrscheinlich wird mich der Doktor gleich nach meinem Namen und Geburtsdatum fragen", scherzte er im Ziel. "Ein netter Franzose hat mir geholfen." Und wie sei sein Name? "Äh, Chris Froome."

Eben jener Froome weiß auf den letzten Alpenetappen vor der Ankunft in Paris seinen Domestiken also wieder an seiner Seite - Richie Porte und Wouter Poels nicht zu vergessen, die beiden Bergziegen, welche auch die kommenden Anstiege in ein Ausscheidungsrennen verwandeln könnten. Bevor Thomas und der Kapitän höchstpersönlich die entscheidende Attacke setzen.

Und: Am letzten Ruhetag vor dem Showdown könnte Froome seinerseits von netten Franzosen träumen. Die gibt es zwar zuhauf an den Rampen, Straßenrändern und Gehwegen der 3360 Kilometer, wie Froome auch zugab. Unliebsame Bekanntschaft musste er jedoch vor allem mit einem Knallkopf machen, der ihn auf der 14. Etappe mit einem Becher Urin überschüttete: "Dopée!" Doper! Die Folge: Polizeischutz für seinen Bus.

"Alle waren in Dopingaffären verstrickt"

Der Erste im Tableau muss sich dieser Tage also nicht nur um die Attacken der Mitfavoriten sorgen, sondern auch um die ständigen Dopingvorwürfe, die wie TV-Hubschrauber über ihm kreisen. Verantwortlich macht er dafür sowohl die Sünder der Vergangenheit, als auch die steten Zweifel an seinen Leistungen in den Medien. Hervorgebracht von eben diesen Laurent Jalaberts, Cedric Vasseurs und Armstrongs, die das Image der Grande Boucle dereinst so in den Schmutz zogen.

Denn die sind nun in den Fernsehstudios gern gesehener Gast - und beantworten Fragen nach Froomes starken Leistungen vielsagend mit hochgezogenen Augenbrauen und "Er ist schon sehr stark - man kann ja nie wissen"-Plattitüden. Ein Sportphysiologe bescheinigte ihm bei seinem Sieg in La Pierre-Saint-Martin eine Leistung von 7,04 Watt pro Kilogramm, geschätzt wohlgemerkt, und konstatierte: "Alle Athleten, die in der Vergangenheit über 7,0 geschafft haben, waren in Dopingaffären verstrickt."

Sky veröffentlicht Froomes Pyrenäen-Daten

Nun ist ein Tour-Spitzenreiter ohne Doping-Vorwürfe dieser Tage so wahrscheinlich wie ein Peloton ohne Helmpflicht. Bei Froome, der die Schleife 2013 schon einmal gewinnen konnte, raschelt es allerdings besonders heftig im Blätterwald. Zum Vergleich: Nibali hatte die Tour im Vorjahr mit über siebeneinhalb Minuten Vorsprung gewonnen, ohne sich vergleichbaren Anfeindungen gegenüberzusehen.

Dementsprechend frustriert ist der 30-Jährige: "Die Wild-West-Mentalität von vor zehn, fünfzehn Jahren gibt es nicht mehr", die Zuschauer sollten sich ihr eigenes Urteil bilden. So verzweifelt beteuern er und sein Team ihre weiße Weste, dass Teamleiter Sir Dave Brailsford sogar unabhängige UCI-Experten und einen Leistungspass forderte. Um es mit Froome zu sagen: "Was soll ich denn noch alles tun?"

Alpe d'Huez als Krönung

Die Zweifler wird er bis zum Ende der Woche noch einmal auszublenden versuchen, streng abgeschirmt von seinen Betreuern. Denn gewonnen ist die Tour noch lange nicht: Die Veranstalter um Direktor Christian Prudhomme haben sich in diesem Jahr nicht lumpen lassen, das abschließende Einzelzeitfahren kurzerhand aus dem Kalender gekippt und dafür gleich vier Bergetappen in Serie vor das Schaulaufen auf der Champs-Elysées geparkt.

Dabei dürfte der Mittwoch, der nach 161 Kilometern mit einer Bergankunft der zweiten Kategorie endet und "verhältnismäßig" leicht ist, noch keine Vorentscheidung herbeiführen. Ebenso wenig die 18. Etappe am Donnerstag, die nach dem Anstieg zum Col du Glandon (Hors-Categorie) noch fast 40 weitere Kilometer bietet.

Danach wird es allerdings happig - und historisch: Wie eine Krone mutet das Profil vom Freitag an, über 60 Kilometer geht es bei insgesamt vier Bergwertungen die Alpenpässe hinauf. Gekrönt dann von der Bergankunft in La Toussuire - und die ist noch gar nichts gegen die sagenumwobenen Spitzkehren von Alpe D'Huez, auf denen am Samstag die Tour endgültig entschieden wird. Zuvor muss es am Wochenende übrigens gleich zweimal den Col de la Croix de Fer hinauf. In schlappen 2.067 Meter Höhe.

Kein Wunder also, dass es Froome aller Überlegenheit zum Trotz noch nicht nach Schampus zu Mute ist, gerade ohne das ihm so gelegene Zeitfahren.

Quintana lauert

Gefährden könnte ihn deshalb vor allem der kolumbianische Kletterfuchs Nairo Quintana (3:10 zurück). Der zweite der Gesamtwertung zeigte sich nach einem schwachen Auftritt auf der ersten Pyrenäen-Etappe in den folgenden Teilstücken stets an Froomes Seite, auch wenn seine vereinzelten Etappen wirkungslos blieben. "Wir können Froome in den Alpen attackieren", so der Movistar-Fahrer. "Unser Ziel ist immer noch der erste Platz im Gesamtklassement." Auch Froome könne einmal einen schlechten Tag haben.

Der 25 Jahre alte Bergfloh hatte 2014 den Giro gewinnen können und ist im Sattel mit seinen 1,67 Metern das Gegenstück zu Froome (1,85). Während der das Trikot des besten Kletterers trägt, hat Quintana dieses 2013 schon nach Paris getragen. Sein Vorteil: Mit Alejandro Valverde (4:02 Rückstand) hat er einen Teamkollegen mit in der Spitzengruppe mit dabei, sie könnten den Leader abwechselnd attackieren bzw. einen der beiden zum Edel-Edelhelfer umfunktionieren.

"Du musst es jeden Tag versuchen"

Ebenfalls noch im Rennen, wenn auch nicht mehr mit den allerbesten Aussichten, ist Alberto Contador. Der diesjährige Giro-Sieger, der 2014 auch die Vuelta gewinnen konnte, hatte in der ersten Alpenetappe aufgrund von Atemproblemen abreißen lassen müssen und bräuchte schon einen oder gar zwei Sahnetage, um seinen dritten Tour-Sieg nach 2007 und 2009 anvisieren zu können.

Aufgegeben hat der Spanier sich allerdings noch lange nicht: Am Montag ließ er Helfer Roman Kreuziger in den letzten Anstieg hineinfahren und attackierte später selbst, wenn auch ohne Erfolg. Als starker Abfahrer könnte er es aber vielleicht auch mit einem Überraschungsangriff probieren. Auch seine Form steigt an. Das Motto: "Du musst es einfach jeden Tag versuchen."

Die große Unbekannte im Top-Quintett ist Tejay van Garderen, der in den letzten Jahren vor allem als Domestike von Cadel Evans in Erscheinung trat. Der Fünfte des letzten Jahres ist mittlerweile Alleinherrscher bei BMC und hat mit rund dreieinhalb Minuten auf Froome das Podium im Visier - mindestens. Die Pyrenäen sehe ich als Chance, dass sich die Anderen kaputtfahren. Die Tour wird in der dritten Woche entschieden - in La Toussuire oder Alpe d'Huez. Sie ist kein Sprintrennen, sondern ein Marathon", gibt er sich optimistisch.

Alle Chancen im Klassement verspielt hat dagegen Nibali: Bei 7:49 Minuten Rückstand kann er sich lediglich Hoffnungen auf einen Ausreißversuch mit anschließendem Etappensieg machen. Ein realistisches Unterfangen, wie seine Aktion am Col de Manse zeigte.

Kommt noch ein Einbruch?

596 Kilometer Asphalt bleiben den Titelaspiranten noch, um Froome zum ersten Mal in diesem Juli in Verlegenheit zu bringen. Attacken im Berg hat der in Kenia geborene Allrounder bislang souverän gekontert, mit kleiner Übersetzung kann er Löcher sowohl im Sattel, als auch im Wiegetritt zufahren.

Ihm gleich drei oder sogar viermal eine Minute in den Anstiegen abzunehmen, scheint in seiner derzeitigen Form utopisch, gerade mit dem starken Team an seiner Seite. Die einzige Chance der Verfolger: Ein Bündnis schmieden, Froome früh isolieren, mit ständigen Attacken mürbe fahren - und dann auf einen Einbruch hoffen.

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er das Maillot Jaune bis nach Paris tragen wird. Dann fallen weitere Urinbecher-Würfe auch nicht so auf.

Tour de France 2015: Die Gesamtwertung