Der Meister aller Meister

Von Oliver Mehring
Fausto Coppi gewann fünf mal die Giro d´Italia
© getty

Am Samstag startet der Giro d'Italia in seine 98. Ausgabe. Als größter Triumphator dieses Wettbewerbs gilt bis heute der Nationalheld Fausto Coppi. Der Italiener lieferte Triumphe am Stück und wäre fast an einer privaten Tragödie zerbrochen. SPOX stellt die Radfahrer-Legende vor.

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Wenn das Herz längst gesunde Frequenzbereiche verlassen hat und unermüdlich versucht, frischen Sauerstoff in den ausgelaugten Körper zu pumpen. Wenn die Beine immer schwerer werden und dennoch von einer stoischen Monotonie getragen werden, die den Fahrer immer weiter Richtung Ziel treiben: Dann haben im Radrennsport die ganz Großen ihren Auftritt.

Nur wenige sind in der Lage, diese imaginäre Mauer der Schwerfälligkeit und der Erschöpfung zu durchbrechen. Diese Fähigkeit und dieser Kampfeswille zeichneten einen Fahrer besonders aus. Einen kleinen Italiener aus der norditalienischen Region Piemont, der schon immer etwas anders war. Fausto Coppi - der Meister aller Meister. Giro-Rekordhalter und gefeierter Nationalheld.

Ein kleiner Junge und seiner Fahrrad

Fausto Coppi, Jahrgang 1919, galt zu Kindertagen als kleiner und schwächlicher Junge. Er war häufig krank und fand nur wenig Freude an der Schule. Die einzige Zeit in der er befreit und selbstbewusst schien, war wenn er auf seinem alten verrosteten Fahrrad sitzen konnte, das er in einem feuchten Keller gefunden hatte. Mit diesem Sicherheitsrisiko auf zwei Rädern erkundete der junge Coppi die Umgebung und verlor sich regelmäßig in der weitläufigen Hügellandschaft um Genua.

Immer wieder wurde er mit Strafarbeiten bedacht, da Coppi mit Vorliebe die Schulbank gegen den Fahrradsattel eintauschte. Mit 13 Jahren verließ er endgültig die Schule und arbeitete fortan bei einem Metzger in der Nachbarschaft. Dieser Umstand sollte sich als absoluter Glücksfall für den Jungen herausstellen. Denn die regelmäßigen Lieferungsfahrten und der Austausch mit anderen Fahrradbegeisterten brachten ihn schließlich in Kontakt mit dem Rennradsport.

20 Lire und ein Brötchen

Nachdem er von seinem wohlhabenden Onkel das Geld für sein erstes Rennrad erhielt, nahm er mit 15 Jahren an den ersten Rennen teil. Ohne Verein im Rücken schaffte er es sofort aufs Siegertreppchen. Der Lohn: 20 Lire und ein Salami-Brötchen. Doch bei diesem üppigen Preis sollte es nicht bleiben.

1940 wurde Coppi schließlich als Zweitfahrer und Wasserträger von Gino Bartali vom Rennstall Legnano angestellt, nachdem er als Amateur-Fahrer bereits zahlreiche Profis bei kleineren Rundfahrten geschlagen hatte. Hier fand auch die zukünftige Rivalität mit Bartali ihren Anfang, die insbesondere den Radsport in Italien über Jahre fesseln sollte.

Start der Rivalität

Bartali war einige Jahre älter als Coppi und konnte bereits zwei Giro-Titel und einen Tour-de-France-Gesamtsieg in seiner Vita verzeichnen. Er galt als der amtierende König des italienischen Radsports und zeigt sich sehr kritisch gegenüber dem jungen Fahrer, der für ihn wie ein "dünner Hammel-Knochen" aussah. Dementsprechend pikiert war der etablierte Bartali, als Coppi in seinem ersten Profijahr der Konkurrenz und seinem Teamkameraden beim Giro davonfuhr.

Durch eine sensationelle Leistung schaffte es der junge Coppi schließlich auf den ersten Platz im Gesamtklassement und wurde mit 20 Jahren zum jüngsten Gewinner des Wettbewerbs.

Doch bevor die Karriere von Coppi überhaupt richtig begonnen hatte, machte ihm der Zweite Weltkrieg einen Strich durch die Rechnung. 1941 wurden weder der Giro, noch die Tour de France ausgetragen und der aufstrebende Youngster musste sich wieder mit kleinen Rundfahrten begnügen. Bevor Coppi endgültig in die Wirren des Krieges hineingezogen wurde, setzte er noch ein weiteres Ausrufezeichen. Im Velodrom zu Mailand stellte er einen neuen Stunden-Rekord auf, indem er innerhalb von 60 Minuten 45,798 km abspulte und damit eine Bestmarke aufstellte, die erst 14 Jahre später überboten werden sollte.

Coppi vs. Bartali - Kampf der Gegensätze

Nachdem er zwischenzeitlich in englische Kriegsgefangenschaft geraten war, konnte das Fahrrad-Ass erst 1945 seine Karriere fortsetzen. Es sollte der Start für eine fulminante Erfolgsgeschichte werden, die durch die Konkurrenz zu Rivale Bartali zusätzlichen Antrieb bekam. Das gebeutelte Italien sehnte sich nach großen Helden und fand sie in zwei Radfahrern, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Ganz Italien spaltete sich in zwei Lager: Die 'Coppisten' und die 'Bartalisten'.

Fausto Coppi war ein offenherziger und weltmännischer Junggeselle, der bereits früh sein Augenmerk auf moderne Trainingsmethoden legte. Der Norditaliener ernährte sich vegetarisch und installierte sich für schlechte Wetterumstände Zuhause eine Art Heimtrainer. "Er erfand und revolutionierte den modernen Radsport, indem er ihn in eine präzise Wissenschaft verwandelte", erklärte einst ein französischer Journalist.

Gino Bartali galt hingegen als konservativ und gottesfürchtig. Ohne moderne Trainingsmethoden stand er sinnbildlich für den agrarischen Süden Italiens und blickte mit einer gewissen Abneigung auf den Emporkömmling aus dem wohlhabenden Norden der Republik. Auf das damals gängige Amphetamin, unter den Fahrern "La bomba" genannt, griffen allerdings beide zurück.

"Coppi hat niemanden im Himmel"

Der Journalist Curzio Malaparte erklärte die Bedeutung der Rivalität sehr poetisch: "Bartali gehört zu denen, die nach wie vor an Traditionen festhalten. Er ist ein Mann der Metaphysik, der von den Heiligen beschützt wird. Coppi hat niemanden im Himmel. Bartali betet während er in die Pedale strampelt. Der rationale und skeptische Coppi wird dagegen ständig von Zweifeln begleitet. Er glaubt einzig an seinen Körper - seinen Motor."

Die goldenen Jahre

Diese Qualität zeichnete Coppi besonders aus. Der unbarmherzige Zug, dem kaum ein Fahrer zu seiner Zeit standhalten konnte und der besonders auf Bergetappen zum Vorschein kam. Die Abstände zum Zweitplatzierten stachen bei seinen Erfolgen immer wieder hervor: "Wenn Fausto gewann und du wolltest die Zeitabstände prüfen, brauchte man keine Stoppuhr. Die Kirchenglocken taten es auch.", erklärte ein beeindruckter Teamkollege Raphael Geminiani.

Zwischen 1946 und 1952 soll er zudem kein einziges Mal eingeholt worden sein, nachdem es ihm einmal gelang sich vom Fahrerfeld abzusetzen. Zusätzlich beeindruckte Coppi mit seiner eleganten Fahrweise, die konträr zu dem unbarmherzigen Kampfeswillen des kleinen Energiebündels stand.

Ein Mythos findet seinen Anfang

Mit 23 Minuten Abstand auf den Zweitplatzierten Bartali deklassierte Coppi beim Giro'49 die Konkurrenz und holte Titel Nummer drei. Der Saisonhöhepunkt sollte aber noch folgen. Denn im gleichen Jahr machte er sich auf den Weg in den Radsport-Olymp. Keinem Fahrer zuvor war es jemals gelungen, in einem Jahr den Giro und die Tour de France zu gewinnen.

Nach einem schwierigen Start, der ihm in der ersten Etappe gleich einen Rückstand von dreißig Minuten einbrachte, schien er kaum noch Chancen auf den Sieg zu haben. Doch der Italiener bewies erneut seine Kämpferqualitäten und fraß sich Kilometer um Kilometer an die Spitze vor.

Als sein größter Widersacher Bartali durch Verletzungsprobleme immer weiter abfiel, hatte Coppi endgültig freie Bahn und schuf mit seinem ersten Tour-Sieg einen modernen Mythos. Mit seiner Ankunft in Paris, sieben Minuten vor Bartali, lag ihm die Radsport-Welt zu Füßen.

Die Schattenseiten

Auf das Karrierehoch folgten zwei dramatische Jahre. Zwar startete die Saison 1950 vielversprechend für Coppi, doch auf der neunten Etappe des Giro stürzte er unglücklich und zog sich einen dreifachen Beckenbruch zu. Die Saison war damit gelaufen. Die größte Prüfung sollte darüber hinaus noch kommen.

Sein jünger Bruder Serse Coppi war ebenfalls ein aufstrebender Radprofi, der sich durch beachtliche Siege bei kleineren Rundfahrten einen Namen gemacht hatte.

Während der Vorbereitung auf die Tour de France stürzte Serse unglücklich auf den Kopf und wurde anschließend mit Kopfschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert. Dort starb der kleine Coppi - vermutlich an einer Hirnblutung. Die Nachricht war ein Schock für Fausto, die ihn sofort an seiner Karriere zweifeln ließ.

Ganz Italien trauerte um den Verlust des kleinen Coppi und sorgte sich um seinen Nationalhelden. Nach einer längeren Trauerphase stieg das Ausnahme-Talent wieder auf das Rad. Aus moralischer Verpflichtung und Ablenkung, wie er sagte. Sein Kampfeswille schien hingegen gebrochen. Auf der Tour reicht es nur für Platz zehn und Coppi verlor den Radsport allmählich aus den Augen.

Eine letzte Fabelleistung

Das folgende Jahr brachte einige Neuerungen mit sich und der Franzose Raphael Geminiani wurde ihm an die Seite gestellt. Der enthusiastische Geminiani, Sohn italienischer Auswanderer, brachte Coppi wieder zurück in die Spur und befeuerte erneut die unsagbaren mentalen und körperlichen Fähigkeiten von Fausto.

Angetrieben von einer fulminanten Teamleistung, kehrte Coppi zurück an die Spitze der Fahrradwelt und wiederholte 1952 sein Double aus Giro und Tour de France.

Seine letzten Karrierehighlights erreichte Coppi schließlich durch einen erneuten Giro-Sieg 1953 und seiner ersten und einzigen Straßen-Weltmeisterschaft. Nach und nach entwickelte er auf dem Rad eine gewisse Altersmilde und wurde immer wieder durch Erkrankungen und Verletzungen zurückgeworfen.

Das Vermächtnis

Im Dezember 1959 nahm er zusammen mit seinem Teamkollegen Geminiani an einer kleinen Rundfahrt in Afrika teil. Nach seiner Rückkehr nach Europa, ging es im plötzlich immer schlechter und er bekam hohes Fieber. Sein Teamkamerad hatte in Frankreich mit gleichen Symptomen zu kämpfen und wurde schließlich mit Malaria diagnostiziert. Die Ärzte in Italien gingen jedoch von einer anderen Erkrankung aus und spritzten Fausto unentwegt Kortison-Spritzen. Am 2. Januar 1960 schlug sein großes Kämpferherz schließlich zum letzten Mal.

Um die Bedeutung von Fausto Coppi für den Radsport einzuordnen, reicht der Verweis auf den L'Equipe-Gründer Goddet Jacques: "Die Nummer eins, gemessen an den Resultaten, ist Eddy Merckx. Doch es gibt jemanden, der über diesen Zahlen steht: Fausto Coppi. Denn sein Erfolg und seine Karriereumstände manifestierten sich in seiner göttlichen Überlegenheit, dem Übermenschlichen, in seiner Morphologie, seiner Natur." In Italien feiert man ihn bis heute als Il Campionissimo - der Meister aller Meister.

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