Rehm darf bei EM nicht starten

SID
Markus Rehm erfüllte die Europameisterschafts-Norm im Weitsprung
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Herber Rückschlag für Überflieger Markus Rehm: Der Prothesen-Weitspringer aus Leverkusen darf trotz erfüllter Norm nicht bei den Europameisterschaften in Zürich (12. bis 17. August) starten. Der DLV verzichtete auf die Nominierung des 25-Jährigen in sein 93-köpfiges EM-Aufgebot.

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Rehm reagiert gefasst, aber auch ein "bisschen enttäuscht" auf die Nicht-Nominierung: "Das ist sehr schade. Das muss ich erst einmal verdauen. Ich bin auf die Begründung gespannt, die kenne ich noch nicht."

"Die mechanischen Bedingungen von einem Feder- und einem Muskel-Knochen-System sind unterschiedlich. Es ist nicht der gleiche Weitsprung", sagte DLV-Cheftrainer Idriss Gonschinska und sprach mit Blick auf den Entscheidungsprozess von einer "Plausibilitätsanalyse": "Markus hat uns fasziniert, aber es gab Zweifel an der Vergleichbarkeit der Leistungen. Er besitzt eine unglaubliche Abflugeffizienz. Dadurch lässt sich eine Merkmalsdifferenz ableiten."

Rehm behielt sich juristische Schritte gegen die Entscheidung des DLV vor. "Ich habe gesagt, wenn ich fair behandelt werde und es eine faire Analyse gibt, werde ich darauf zu 100 Prozent verzichten", sagte der deutsche Meister, nachdem ihn der DLV nicht in sein EM-Aufgebot berufen hatte: "So kurz nach der Entscheidung muss ich mich erst mit meinem Umfeld beraten und dann sehen, wie es weitergeht."

Einspruch mit guten Chancen

Professor Gert-Peter Brüggemann vom Institut für Biomechanik an der Deutschen Sporthochschule Köln räumt einem möglichen Einspruch gegen die Nicht-Nominierung große Chancen ein. "Ich bin bei der aktuellen Datenlage fest davon überzeugt, dass ein Protest vor dem Internationalen Sportgerichtshof gute Aussichten hätte", sagte Brüggemann. Mit der in Ulm vorgenommenen Studie könne "ein Vorteil nicht seriös nachgewiesen worden sein. Ich finde es nicht gut, wenn solche Entscheidungen auf Spekulationen beruhen. Damit wird man behinderten Sportlern nicht gerecht."

Kritik an der DLV-Entscheidung gab es auch von Friedhelm Julius Beucher, dem Präsidenten des Deutschen Behindertensportverbandes: "Für uns ist die Entscheidung, den deutschen Meister nicht in das EM-Aufgebot zu berufen, einfach nur enttäuschend", sagte Beucher: "Wir empfinden die Nicht-Nominierung als Rückschritt in den Bemühungen, eine Gleichstellung von behinderten und nichtbehinderten Sportlern anzustreben."

Rehm, Paralympics-Sieger von 2012, hatte am vergangenen Wochenende in Ulm Geschichte geschrieben und als erster Springer mit Handicap den deutschen Meistertitel bei den Aktiven gewonnen. Zudem hatte er seinen Weltrekord um 29 Zentimeter auf 8,24 m verbessert. Damit überbot Rehm die EM-Norm von 8,05 m deutlich - nur vier Athleten in Europa sind in diesem Jahr überhaupt weiter gesprungen.

Für den Weitsprung-Wettbewerb bei der WM wurden vom DLV der DM-Zweite Christian Reif (Rehlingen) sowie Julian Howard (Karlsruhe) und der amtierende Europameister Sebastian Bayer (Hamburg) nominiert. Ob Rehm seinen Meister-Titel behalten darf, ist noch nicht entschieden.

Eine Sache des Ermessens

Gonschinska sprach mit Blick auf die Nominierung von "einem vertrauensvollen Abwägungsprozess im Sinne der Transparenz." Es sei eine Sache des Ermessens gewesen, da lediglich Reif alle EM-Normen erfüllt habe. Die DLV-Verantwortlichen verließen sich bei der Einschätzung der "Causa Rehm" hauptsächlich auf die Werte der normalen Wettkampf-Analyse, weniger auf das Ergebnis der biomechanischen Untersuchungen. "Es gab erhebliche Zweifel, ob es vergleichbare mechanische Bedingungen zwischen den Springern gibt", meinte Gonschinska.

Plausibel sei unter anderem die Tatsache, dass das Sprunggelenk bei den Springern ohne Behinderung beim Absprung "kollabiere", was Rehm einen Vorteil verschafft. Einzelne Werte würden dies belegen, erklärte der Cheftrainer. Auch der bei der Pressekonferenz anwesende Sportwissenschaftler und Bio-Mechaniker Veit Wank sprach davon, "dass ein Vorteil durch die Prothese den entscheidenden Punkt" bringe.

DLV-Präsident Clemens Prokop betonte ungeachtet einzelner Kritiker, dass die Inklusion im Verband "gelebt" werde und "höchste Priorität" besitze. Der DLV will das Begehren vorantreiben, dass der Weltverband IAAF künftig klar regelt, unter welchen Bedingungen und mit welchen Hilfsmitteln behinderte Athleten bei Veranstaltungen von Nicht-Behinderten starten dürfen.

Der EM-Kader des DLV im Überblick

Die Stimmen zum EM-Aus von Markus Rehm

Markus Rehm (Unterschenkelamputierter Weitspringer): "Das ist sehr schade. Natürlich bin ich ein bisschen enttäuscht. Das muss ich erst einmal verdauen. Ich bin auf die Begründung gespannt, die kenne ich noch nicht. Es ist nicht richtig, dass alles von der Prothese abhängt. Das soll nicht in den Köpfen der Menschen hängenbleiben."

Alfons Hörmann (DOSB-Präsident): "Der DLV hat sich seine Entscheidung sicher nicht leicht gemacht. Für Markus Rehm ist das persönlich eine bittere Enttäuschung, dennoch hat er am vergangenen Wochenende in Ulm mit seiner herausragenden Leistung Sportgeschichte geschrieben. Sowohl sein Fall als auch die generelle Frage von Inklusion im Spitzensport stehen mit der heutigen Entscheidung nicht am Ende, sondern am Anfang einer Entwicklung."

Clemens Prokop (DLV-Präsident): "Wir wollen auch weiterhin mit nicht-behinderten und behinderten Sportlern trainieren und Wettkämpfe bestreiten, allerdings muss für einen fairen Wettkampf sichergestellt sein, dass die Leistungen vergleichbar sind und danach gehend beurteilt werden."

Friedhelm Julius Beucher (Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes): "Für uns ist die Entscheidung, den deutschen Meister nicht in das deutsche EM-Aufgebot zu berufen, einfach nur enttäuschend. Wir empfinden die Nichtnominierung als Rückschritt in den Bemühungen, eine Gleichstellung von behinderten und nichtbehinderten Sportlern anzustreben. Die laufenden biomechanischen Analysen sind noch nicht abgeschlossen. Die Nichtnominierung daher mit bestehenden Zweifeln an der Vereinbarkeit mit der Regel 144 zu begründen, ist nicht stichhaltig."

Idriss Gonschinska (DLV-Cheftrainer): "Markus Rehm hat in Ulm einen phantastischen Wettkampf realisiert und uns begeistert. Er genießt als Sportler meinen absoluten Respekt. Die Zweifel daran, dass ein Absprung mit einer Karbon-Prothese und der Absprung mit dem menschlichen Sprunggelenk unter vergleichbaren mechanischen Bedingungen verlaufen, konnte nicht ausgeräumt werden. Wenn ein Sportler mit einer deutlich geringeren Anlaufgeschwindigkeit die gleiche Flugweite erzielt, muss er zwangsweise geringere Energieverluste am Brett haben."

Christian Reif (Weitsprung-Europameister von 2010 via Twitter): "An der Weitsprunggrube konnte Dich niemand schlagen und trotzdem wirst Du nicht für die EM nominiert; weil eilig - aber viel zu spät - ausgewertete Analysen zu dem Ergebnis kommen, dass Du einen Vorteil haben sollst. Vorteil hin oder her. Für mich bist Du dennoch ein Gewinner, denn du hast allen gezeigt, wozu Sportler mit Behinderung fähig sind."

Professor Dr. Veit Wank (Biomechaniker Universität Tübingen): "Der gesunde Fuß hat erst in der Endphase des Sprungs die Möglichkeit zum Abdruck. Das Carbon-Bein kann ein größeres Dreh-Moment leisten und passiv Energie speichern. Die Entscheidung der Nicht-Nominierung ist aus meiner Sicht richtig, weil es eine völlig andere Art ist zu springen, die nicht zu vergleichen ist."

Eckhard Meinberg (Sportethik-Experte der Deutschen Sporthochschule Köln): "Für den Sport ist die Entscheidung nur zu begrüßen, weil das Fairnessprinzip im Wettkampfsport höher zu bewerten ist als das Inklusionsprinzip. Rehm hat dank technischer Hilfsmittel sein Naturleid um ein technisches Kunstprodukt ergänzt. So besteht keine Chancengleichheit."

Gert-Peter Brüggemann (Professor vom Institut für Biomechanik und Orthopädie der Deutschen Sporthochschule Köln): "Mit dieser Studie kann ein Vorteil nicht seriös nachgewiesen worden sein. Ich finde es nicht gut, wenn solche Entscheidungen auf Spekulationen beruhen. Damit wird man behinderten Sportlern nicht gerecht. Wir wissen nichts über die Prothese. Wir brauchen eine verlässliche Studie, wie sich Prothesen auswirken. Ich bin bei der aktuellen Datenlage fest davon überzeugt, dass ein Protest vor dem Internationalen Sportgerichtshof gute Aussichten hätte."

Wojtek Czyz (mehrmaliger Paralympics-Sieger): "Das Wichtigste für eine objektive Entscheidung ist die Klärung der Frage, ob die Prothese Markus Rehm tatsächlich einen Vorteil gegenüber Nichtbehinderten verschafft. Diese Frage jedoch ist noch völlig ungeklärt, und die bisher veröffentlichten Informationen sprechen nicht für eine belastbare Analyse. Der DLV hat offenbar nicht aufgrund von Tatsachen, sondern aufgrund von Wahrscheinlichkeiten entschieden. Dies sollte nicht Grundlage einer derart weitreichenden Entscheidung sein. Solange ein materialbedingter Vorteil nicht belastbar erwiesen ist, sollte Markus Rehm das selbstverständliche Recht haben, bei der Europameisterschaft zu starten."

Steffi Nerius (Trainerin von Rehm): "Ich finde es schade, dass Markus dafür bestraft wird, dass der DLV es vor einem dreiviertel Jahr nicht geschafft hat, die Untersuchungen einzuleiten. Letztendlich muss Markus darunter leiden, dass er bei den Europameisterschaften nicht springen darf, weil es der Deutsche Leichtathletik-Verband versäumt hat."

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