Der letzte Mohikaner aus Neukölln

Tyron Zeuge will in Potsdam den Schritt machen
© getty

Tyron Zeuge trifft am 25. März in der MBS Arena (ab 22:50 Uhr live auf DAZN) auf Isaac Ekpo. Für den Youngster aus dem Sauerland-Stall ist es die erste Titelverteidigung seines Gürtel der WBA im Supermittelgewicht. Der 24-jährige Berliner will in Potsdam aber nicht nur Don Kings K.o.-Granate aus Nigeria entschärfen, sondern vor allem den Grundstein für die Zukunft legen.

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Volle Konzentration bei jeder Einheit, komplette Hingabe für den Sport und ein großes Ziel vor Augen: Begleitet von deutschem Rap gewährt Tyron Zeuge via Facebook wenige Tage vor seinem WM-Kampf gegen den Nigerianer Isaac Ekpo einen Einblick in die Vorbereitung auf den Showdown in der Potsdamer MBS Arena.

Unter den wachsamen Augen von Coach Jürgen Brähmer, selbst Weltmeister im Juniorenbereich sowie WBO- und WBA-Champion bei den Profis, wärmt sich der Youngster aus dem Sauerland-Stall beim Seilspringen auf, schleudert Medizinbälle gegen eine gepolsterte Wand und malträtiert einen Sandsack. Schlag um Schlag prasselt auf das Equipment ein. Zeuge tänzelt, ist in seinem Element.

So explosiv, dynamisch und mit jeder Menge Power in den Fäusten, wie sich der 24-Jährige im Vorfeld präsentiert, will er auch bei seiner ersten Titelverteidigung des WBA-Gürtels im Supermittelgewicht auftreten. Ein Sieg ist Pflicht. Zeuge ist der Lokalmatador, Weltmeister - und hat der Welt dennoch einiges zu beweisen.

Der Titel ist erst der Anfang

"Den Titel zu holen, war eine Herausforderung. Ihn zu behalten, wird aber noch viel schwerer", erklärte der Berliner, der sich mit einem Triumph im zweiten Kampf gegen den Italiener Giovanni De Carolis im November 2016 zum Champion gekrönt hatte. Der erste Vergleich endete unentschieden. Zeuge ist nach Graciano Rocchigiani der zweitjüngste Boxer aus Deutschland, dem dieses Kunststück gelang.

"Tyron hat sich zuletzt zum zweitjüngsten deutschen Weltmeister aller Zeiten gekrönt, sich einen Kindheitstraum erfüllt", erklärte auch Kalle Sauerland mit zufriedener Miene. Der Sauerland-Boss verwies allerdings im gleichen Atemzug auf die Rolle, die den in 20 Kämpfen ungeschlagenen 24-Jährigen als Konsequenz erwartet. "Nun steigt der Junge erstmals als Titelverteidiger in den Ring. Tyron ist jetzt der Gejagte."

Damit müsse Zeuge erst einmal umgehen lernen, sagte Sauerland. Zusammen mit Jack Culcay, der unlängst seinen WBA-Titel im Halbmittelgewicht gegen US-Amerikaner Demetrius Andrade trotz eines beherzten Kampfes abgeben musste, stellt er in den Planungen des Stalls eine tragende Säule dar.

"Beide Jungs sind neben den Altmeistern Brähmer und Arthur Abraham aktuell unsere großen Aushängeschilder", stellte Sauerland klar. Eine Pleite gegen Ekpo passt nicht ins Konzept. "Aus Sicht der deutschen Box-Branche wäre eine Niederlage eine Katastrophe", unterstrich der 40-Jährige und fügte kurze Zeit später hinzu. "Tyron ist der letzte Mohikaner - der letzte deutsche Weltmeister."

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Gut, aber nicht gut genug

Der Nigerianer Ekpo, der in 33 Kämpfen auf 31 Siege und 24 Knockouts verweisen kann, geht zwar mit großem Selbstvertrauen in den Kampf, hat seine Erfolge aber nahezu allesamt gegen qualitativ überschaubare Gegner eingefahren. Sein bislang einziger Ausflug nach Deutschland endete im Jahr 2013 zudem mit einer klaren Niederlage. Ekpo hatte sich in der Leipziger Messehalle im Duell um den WBO-Gürtel im Supermittelgewicht gegen Robert Stieglitz nach Punkten geschlagen geben müssen.

Dennoch warnt Brähmer seinen Schützling. "Ekpo ist ein extrem robuster Gegner, der einen schlecht aussehen lassen kann. Er taucht immer wieder ab oder versucht zu klammern. Wenn Tyron nicht über zwölf Runden voll bei der Sache ist, kann es unbequem werden. Er muss intelligent boxen."

Eine Einstellung, die Zeuge teilt: "Nur, wenn ich immer weiter an meinen Stärken und Schwächen arbeite, kann ich auf lange Zeit erfolgreich sein."

Vorbei sind die Zeiten, in denen die große Nachwuchshoffnung, die im Alter von acht Jahren in Neukölln mit dem Boxen angefangen und im Amateurbereich einen Pokal nach dem anderen abgeräumt hatte, mit wiederkehrenden Motivations- und Gewichtsproblemen zu kämpfen hatte und trotz seines Talents vor dem Aus stand.

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Das Schicksal schlägt am härtesten

Den härtesten Schlag hatte Zeuge das Schicksal verpasst. Als er 20 Jahre alt war, starb sein Vater 2012 bei einem Motorrad-Unfall. Er verunglückte mit der Maschine, auf der Zeuge selbst so oft gesessen hatte, wenn ihn sein Vater zum Training fuhr. "Da ist plötzlich um dich herum alles leer", erinnerte er sich später.

Nur dank der Hilfe seiner Mutter, seiner Freundin und ihrer Familie überstand der Berliner die prägende Zeit. Er verlor die Lust am Boxen, an dem Sport der ihn von klein auf mit seinem Vater verband. Seine Prioritäten wurden mit einem Schlag über den Haufen geworfen, und das in einem Alter, in dem viele junge Menschen gerade dabei sind, ihren Platz im Leben zu suchen oder Träumen nachzujagen.

Sportlich war der Wechsel nach Schwerin und damit zu Brähmer, der Zeuge in bis dato ungeahnte Höhen katapultieren sollte, entscheidend für die Wende. Eine Grenze sieht Brähmer noch nicht. "Tyron hat jetzt eine körperliche Basis, die er so in seiner Karriere noch nie hatte", erklärte Brähmer, der Zeuge in der Vorbereitung insgesamt 150 Sparringsrunden absolvieren ließ. Sein Boxer bringe "alles mit, um in den nächsten Jahren diese starke Gewichtsklasse zu dominieren", ist sich der 38-Jährige sicher.

Luft nach oben gebe es trotz des Gürtels um die Hüften beim Supermittelgewichtler laut Brähmer aber genug. "Er verfügt über eine wirklich gute Grundaggressivität, setzt diese aber noch zu selten ein", kritisiert er. Zudem fordert Brähmer im Ring noch mehr Konzentration von seinem Schützling ein.

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Zeuge? Kein Großmaul

Die Zurückhaltung, die Zeuge mitunter an den Tag legt, spiegelt den Menschen außerhalb des Seilgevierts wider. Er ist kein Lautsprecher, kein Großmaul. "Ich bin mit dem zufrieden, was ich habe - mehr brauche ich privat nicht, um glücklich zu sein", erklärte der Youngster, der inzwischen selbst Vater eines kleinen Mädchens ist und mit einem japanischen Kleinwagen samt Kindersitz an der Halle vorfährt. Den Großteil seiner Börsen legt er zudem an, schließlich werde er "nicht bis 67 im Ring stehen".

Selbst in puncto Promotion geht er seinen eigenen Weg. "Ich schnappe mir gerne ein paar Plakate und gehe damit durch die Straßen. So mache ich nicht nur auf meinen WM-Kampf aufmerksam, sondern komme auch mit den Leuten ins Gespräch", schilderte der Linksausleger. Letztlich sei er "immer noch der Junge aus Neukölln", so Zeuge. "Klar, ab und zu kommt mal jemand auf mich zu und fragt nach einem Autogramm, aber ansonsten führe ich weiterhin ein ganz ruhiges Leben, wofür ich sehr dankbar bin", schob der aktuell einzige Weltmeister des Sauerland-Stalls nach.

Für einen Lacher sorgte deshalb vor dem Kampf kein Spruch aus dem Lager des Deutschen, sondern Promoter-Legende Don King. "Mein Boxer hat sich komplett in den Regenwald zurückgezogen, arbeitet an einem Spezialschlag. Mit dem soll Zeuge nicht nur auf den Ringboden, sondern auf den Mond befördert werden", ließ King verlauten. Bis zur nächsten Siedlung sollen es 60 Kilometer gewesen sein, selbst für King war Ekpo nur über Boten erreichbar.

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Bewerbungsschreiben für die Zukunft

Hätte der US-Amerikaner bei solchen Ansagen einen Boxer des Kalibers Mike Tyson in der Hinterhand, könnte man über die Worte zumindest nachdenken.

Da die "nigerianische K.o.-Granate", so der gängige Spitzname des Pflichtherausforderers Ekpo, jedoch in gänzlich anderen Sphären zu verorten ist, wirkt das Statement des inzwischen 85-Jährigen unfreiwillig komisch. Die Realität sieht anders aus.

Eine Titelverteidigung Zeuges ist Pflicht und sie sollte eindeutig ausfallen. Schließlich kann er mit einem starken Auftritt gleichzeitig ein Bewerbungsschreiben für die World Boxing Super Series abliefern.

Sollte Zeuge, der alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zukunft mitbringt und laut Trainer-Legende Ulli Wegner "eine große Laufbahn vor sich hat", seine Fähigkeiten abrufen, dann dürfte von den Aussagen bei King nur ein langsames Fähnchenschwenken mit betretenem Gesichtsausdruck übrig bleiben.

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