"Der Weg in die Hölle geht schnell"

Charly Graf (r.) bestritt als erster Häftling in Deutschland einen offiziellen Boxkampf
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SPOX: Mit der Zeit stiegen Sie auf und hatten immer mehr Einfluss. Wie sahen Ihre Aufgaben aus?

Graf: Ich hatte Prostituierte, die für mich angeschafft haben. Dazu Beteiligungen an Klubs und illegalen Spiel-Casinos. Auf einmal hatte ich Geld, Frauen und Anerkennung.

SPOX: War es nicht schwer, sich an das Milieu zu gewöhnen?

Graf: Das geht relativ schnell. Man arbeitet nur noch nachts, die Ideale und Wertvorstellungen nehmen ab. Man trifft sich mit Kollegen, hat immer die gleichen Anlaufstellen und teilt das Finanzielle auf. Es ist fast schon ein geordneter Alltag.

SPOX: Haben Sie nicht in Angst gelebt? Vor der Polizei oder vor verfeindeten Banden?

Graf: Angst ist das falsche Wort. Natürlich ist man vorsichtig. Gewalt ist eine Währung auf der Straße, dessen muss man sich bewusst sein. Ich habe einige Schießereien erlebt und hatte immer das Glück, nie verletzt worden zu sein. Aber trotzdem habe ich mir keine Gedanken über mögliche Konsequenzen gemacht.

SPOX: Können Sie sich noch an den damaligen Charly Graf zurückerinnern? Quasi an Ihr junges Alter Ego?

Graf: Ich habe Sachen gemacht, die jenseits von Gut und Böse waren. Schuldgefühle kannte ich einfach nicht. Als Zuhälter verliert man sowieso den Respekt vor Frauen. Anders geht es auch gar nicht. Ich war ein asozialer Kotzbrocken, wenn man es auf den Punkt bringen will.

SPOX: Die Quittung dafür kassierten Sie einige Jahre später vom Staat. Wegen Glücksspiels, Zuhälterei und Rohheitsdelikten saßen Sie mit Unterbrechungen insgesamt rund zehn Jahre in Haft. Können Sie sich noch an das Gefühl erinnern, als Sie zum ersten Mal Ihre Zelle betraten?

Graf: Das war der Super-Gau. Draußen war ich ein Mensch, der an nichts gebunden war. Ich konnte machen, was ich wollte, jenseits von allen Regeln. Und genau das wurde mir genommen. Es war ein unterirdisches Gefühl.

SPOX: Wie wurden Sie im Gefängnis als ehemalige Rotlicht-Größe aufgenommen?

Graf: Das war einfach, den einen oder anderen kannte ich ja noch von draußen. Außerdem herrscht im Gefängnis der Darwinismus, der Stärkere setzt sich durch, man teilt sich den Raum ja nicht mit Klosterschülern. Aber damit hatte ich dank meiner Box-Vergangenheit keine Probleme. Mit der Zeit tauchten allerdings andere auf.

SPOX: Zum Beispiel?

Graf: Je länger ich einsaß, desto schlimmer wurde für mich nicht das Eingesperrtsein, sondern das Leben mit den anderen Häftlingen. Ich habe Menschen getroffen, denen einfach nicht mehr zu helfen war. Die mich ganz krank gemacht haben. Man musste aufpassen, dass das Negative in einem nicht verstärkt wurde.

SPOX: 1980 zettelten Sie in der JVA Mannheim eine Meuterei an und wurden danach in die JVA Stuttgart-Stammheim verlegt. Warum?

Graf: Mir wurde nicht erlaubt, meine kranke Mutter zu besuchen. Das war mein Antrieb, die anderen Häftlinge hatten sicherlich ihre eigenen Gründe. Als an einem Tag das Essen ungenießbar war, entwickelte sich alles von selbst. Wir übernahmen das Kommando und bildeten sogar ein Komitee, das mit der Gefängnisleitung verhandelte. Das war eine sehr intensive Zeit.

SPOX: Die Meuterei und die folgende Verlegung sollte sich für Sie als Glücksfall erweisen. In der neuen JVA lernten Sie den ehemaligen RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock kennen.

Graf: Wir haben uns im Hof getroffen. Ich weiß noch meine ersten Worte an ihn: "Was willst du hier, du Zwerg!" Und er raunzte etwas von "vollgefressenem Zuhälterschwein".

SPOX: Und daraus entwickelte sich eine Freundschaft?

Graf: Ja, wir haben voneinander profitiert. Durch ihn bin ich zur Literatur gekommen und habe angefangen, Hesse und Faulkner zu lesen. Wir haben über Gott und die Welt diskutiert. Ich war fasziniert davon, wie er geredet hat. Er hat mich erkennen lassen, wer ich bin und warum Gewalt falsch ist. Im Gegenzug habe ich ihn trainiert.

SPOX: Ein früherer RAF-Terrorist, der einem Boxer die Sinnlosigkeit von Gewalt erklärt. Das klingt paradox, oder?

Graf: Das mag sein, der Baader-Meinhof-Komplex war mir durchaus ein Begriff, aber es war vielleicht genau seine Art, die ich in dieser Zeit gebraucht habe. Ich bin blind durch das Leben gelaufen, und er hat mir die Augen geöffnet.

SPOX: Vor allem die Ballade "Willy" von Konstantin Wecker soll es Ihnen in dieser Zeit angetan haben.

Graf: Seine Musik hat mich begeistert. Das Lied hat meine Wut ausgedrückt, meinen Hass.

SPOX: Den Hass auf was?

Graf: Auf alles. Auf den Richter, auf die Polizei, sicherlich auch ein wenig auf mich selber. Die Zelle wurde zu meiner Bibliothek - und irgendwann auch zu meiner Trainingshalle.

Seite 1: Graf über die Alkoholsucht, die Baracken und sein Box-Debüt

Seite 2: Graf über das Rotlichtmilieu, den Knast und einen Ex-RAF-Terroristen

Seite 3: Graf über sein Comeback, einen bitteren Trick und seinen neuen Job

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