Die Geister der Vergangenheit

Auch Curtis Stevens (l.) war nur ein weiteres Opfer von Gennady Golovkin (r.)
© getty

Im Ring dominiert Gennady Golovkin seine Kontrahenten nahezu nach Belieben, keiner seiner Gegner konnte den Kasachen bislang ernsthaft in Gefahr bringen. Außerhalb des Seilgevierts versetzte das Schicksal dem Mittelgewichtler allerdings einige harte Schläge. Aufhalten ließ er sich von diesen jedoch nicht.

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Es ist ein warmes, sanftmütiges Lächeln, das zum Markenzeichen von Gennady Golovkin geworden ist. Keine Spur von Hohn, Ironie oder Berechnung. Eher ein bisschen albern, gar verspielt wirkt es zuweilen. Ein Lächeln, das sein Gesicht niemals zu verlassen scheint.

Klingelt in seiner Nähe ein Telefon, weicht es für einen kurzen Moment einer inneren Anspannung, gegen die der 31-Jährige machtlos zu sein scheint. Die strahlenden Augen, die Mundwinkel, ja die komplette Komposition seiner Gesichtsmuskulatur, alles verändert sich. Auch wenn sich der WBA- und IBO-Weltmeister im Mittelgewicht nichts anmerken lässt, ist es eben jenes Klingeln, das unweigerlich Erinnerung hervorruft.

Erinnerungen an eine Vergangenheit, die er nur zu gerne ändern würde, es jedoch niemals können wird. Niemand kann ungeschehen machen, was ihm und seiner Familie widerfahren ist.

Schatten der Vergangenheit

Zusammen mit seinem Zwillingsbruder Max sowie den älteren Brüdern Vadim und Sergey wuchs Gennady in der kasachischen Stadt Karaganda auf. Sein Vater war Minenarbeiter, die Mutter Assistentin in einem Chemielabor. Nicht gerade selten fanden sich die Brüder auf der Straße in Keilereien wieder. Es wurde gerungen, geboxt oder einfach nur wild um sich geschlagen. Alternative Beschäftigungsmöglichkeiten waren kaum vorhanden.

Schon früh drehte sich deshalb in Gennadys Leben alles um das Boxen. Ob Kämpfe von Ray Leonard, Mike Tyson oder alte Aufnahmen von Ray Robinson, alle liefen sie per Videorekorder rauf und runter. Im Alter von acht Jahren nahmen ihn seine Brüder dann erstmals mit zum Training. Die Faszination hatte ihn gepackt, sie trieb ihn an und sorgte dafür, dass er bald auch im Ring auf sich aufmerksam machte.

Boxen war für ihn schon immer weitaus mehr. Es half zu vergessen, sorgte für unbeschwerte Momente. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Kasachstans mangelte es auch den Golovkins am Nötigsten, Sorgen gehörten zum Tag wie Schatten zum Licht. Und das, obwohl sich die Familie doch gerade erst von ihrem dunkelsten Kapitel ein wenig erholt zu haben schien.

Ein Job war auch in der Zeit zuvor schwer zu finden, die Armee ein willkommener Arbeitgeber - so auch für Vadim. Die Gefahr war allen bewusst, wurde jedoch stets verdrängt. Bis zu jenem Tag, der nun vier Jahren zurücklag. Dem Tag, als Vadim starb. Der Leichnam war verschwunden, Informationen über die Umstände des Todes erfuhr die Familie nie. Alles, was blieb, war ein Anruf.

Ein grausames Deja-Vu

Noch lange danach ging das Klingeln Gennady durch Mark und Bein. Als im Frühjahr 1994 das vertraute Geräusch erneut zu hören war, war die Vorfreude bei ihm dennoch riesig. Sergey, der ebenfalls beim Militär angestellt und deshalb selten zu Hause war, meldete sich in regelmäßigen Abständen. Die Gespräche halfen Gennady zum einen den Alltag zu bewältigen, zum anderen gaben sie ihm die Gewissheit, dass bei seinem großen Bruder alles in Ordnung war.

Am Telefon war jedoch nicht sein Bruder. Gennady riss es den Boden unter den Füßen weg. Nicht schon wieder, dachte er - bitte nicht schon wieder. Die Hoffnung war vergebens. Nach Vadim war auch Sergey für immer weg. An das schreckliche Gefühl der Leere und den brennenden Schmerz erinnere er sich noch heute, so Golovkin.

Genau wie bei Vadim gab es auch bei Sergey keinerlei Informationen. Die Familie, welche an den Schicksalsschlägen zu zerbrechen drohte, musste auch diesmal einen leeren Sarg in das kalte Grab hinablassen. "Es war eine sehr, sehr harte Zeit", erinnert sich Gennady rückblickend: "Es zerriss jeden von uns."

Es hätte ihm wohl niemand verübelt, wenn er sich komplett zurückgezogen hätte. Wurde er doch bei jedem Training unweigerlich an das Geschehene erinnert. Doch Gennady entschied sich dafür, den Tod auf seine Art zu verarbeiten: Er investierte seine ganze Kraft in die gemeinsame Leidenschaft. Für sich, aber auch für seine Brüder - wie er Jahre später betont.

Der lange Weg nach oben

Geändert hat sich daran nie etwas - auch zwanzig Jahre später nicht. Jedes Mal, wenn er in den Ring steigt, wird deutlich, dass er das Boxen nicht als Mittel zum Zweck versteht, sondern für jeden noch so kleinen Moment lebt. "Ich liebe das Boxen. Es ist mein Leben", bringt er es selbst auf den Punkt.

Überstürzt hat er auf seinem langen Weg nichts. Über 350 Kämpfen als Amateur, von denen er nur eine Handvoll verlor, sowie eine Silbermedaille bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen stehen zu Buche.

Im Gegensatz zu manch anderem war er zweifelsohne bereit für den großen Schritt. Eine makellose Bilanz von 30 Siegen bestätigt dies und macht ihn zu einem der gefürchtetsten Boxer im Mittelgewicht sowie zum "Kämpfer des Jahres 2013" des "Ring Magazine".

Metamorphose als Schlüssel

"Ich hatte die Ehre, mit vielen talentierten und großartigen Kämpfern zu arbeiten. Allerdings ist er bei weitem der Beste, den ich jemals trainiert habe", unterstreicht auch Trainer Abel Sanchez die Ausnahmestellung seines Schützlings.

"Gennady ist auf einem anderen Level als alle anderen Boxer im Mittelgewicht und auch im Super-Mittelgewicht. Niemand ist in der Lage, zwölf Runden gegen ihn durchzuhalten. Keiner kann ihm das Wasser reichen."

Die Rolle des Mannes, der in 34 Jahren als Trainer stolze 14 Kämpfer zu Weltmeistertiteln geführt hat, kann dabei gar nicht hoch genug bewertet werden. Die Transformation, die Golovkin seit Juni 2010 unter Sanchez durchlief und die noch lange nicht abgeschlossen sein dürfte, ähnelt in gewisser Weise der von Manny Pacquiao unter Freddie Roach. Erst unter Sanchez ging es für Golovkin auf ein neues Level.

Ein Geschenk Gottes

Dieser baute dabei vor allem auf ein Fundament, welches bereits vorhanden war: Die Ringintelligenz, die sich während Golovkins Zeit als Amateur entwickelt hatte, die starke Beinarbeit sowie die Anpassungsfähigkeit während eines Kampfes. Er ergänzte die russische Boxschule unter anderem mit der typisch mexikanischen Aggressivität und kreierte einen Stil, der seinen Schützling von einfachen Punchern, die nur auf ihre Kraft bauen, deutlich unterscheidet.

Zudem wird Golovkin trotz seines Vorwärtsdrang verhältnismäßig wenig getroffen und hat dazu auch noch ein gutes Kinn - weder als Amateur noch als Profi ging er je zu Boden. Seine größte Stärke ist und bleibt jedoch die Power.

"Es gibt eine Sache, die ich einem Kämpfer nicht antrainieren, die auch kein anderer Trainer vermitteln kann - und das ist reine Schlagkraft", weiß Sanchez: "Gennady wurde mit einem Geschenk geboren."

Ein Geschenk, das der Kasache zu nutzen versteht. Die beste K.o.-Quote in der Geschichte des Mittelgewichts verdeutlicht dies auf eindrucksvolle Weise. Bei 30 Kämpfen stand der Kasache nur 127 Runden im Ring, 27 Knockouts und damit eine Quote von 90 Prozent runden das Bild ab. Seit 2008 ging kein Duell mehr über die volle Distanz.

Gnadenloses Schicksal

Im Ring scheint Golovkin, der seit 2006 zusammen mit seiner Frau Alina sowie dem gemeinsamen Sohn Vadim in Stuttgart lebt und der seine Profi-Karriere in Deutschland begann, nahezu unaufhaltsam zu sein. Seine größten Prüfungen fanden weiterhin außerhalb statt. Und wieder war es ein Klingeln, das schlechte Nachrichten mit sich brachte.

Als er am 18. Februar 2014 den Hörer abhob, erwartete Gennady, der sich bereits mitten in der Vorbereitung für seinen Kampf gegen Andy Lee befand, nichts Böses. Die Nachricht, die ihm dann jedoch überbracht wurde, war ein Schock.

Sein Vater Gennady Ivanovich Golovkin war im Alter von nur 61 Jahren völlig überraschend einem Herzinfarkt erlegen. Von einer Sekunde auf die andere veränderte sich alles, die Vergangenheit, die hinter ihm zu liegen schien, holte ihn ein. Erinnerungen, die schmerzhafter kaum hätten sein können, mischten sich zu den Gefühlen der Gegenwart.

Den Kampf gegen Lee sagte er ab. Eine Trauerperiode von 40 Tagen, eine kasachische Tradition, trat an dessen Stelle. Jeden Tag traf sich die Familie im Haus, um gemeinsam zu trauern und den Tod zu verarbeiten. Doch auch nach diesem Rückschlag kehrte Golovkin zurück und machte nahtlos weiter, wo er aufgehört hatte.

Zukunftsmusik

Nach einem beeindruckenden Sieg über Daniel Geale wartet mit Marco Antonio Rubio nun die nächste Aufgabe. Der Mexikaner stand bereits 66 Mal als Profi im Ring, bei 59 Duellen ging er als Sieger hervor, stolze 51 Kämpfe beendete er vorzeitig. Mit einer solchen Power und Aggressivität, wie sie Golovkin in seinen Fäusten hat, dürfte er noch nie Bekanntschaft gemacht haben.

Trotzdem dürfte es - ganz abgesehen von jeglichen Gewichtsproblemen beim Gegner - nur ein weiterer Schritt für GGG sein. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem absoluten Leckerbissen. Denn 2015 könnte es zum großen Vereinigungskampf zwischen dem Kasachen und WBC-Champion Miguel Cotto kommen. Eine Herausforderung, die Golovkin mit einem Lächeln annehmen würde.

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