Der außerirdische Oldtimer

Bernard Hopkins (M.) trifft am Samstag auf Karo Murat
© getty

Der Gefängnisalltag öffnete ihm die Augen. Als Executioner wurde er zu einer Legende. Nun hat Bernard Hopkins seine Metamorphose vollendet. Vor seiner Titelverteidigung im Halbschwergewicht gegen Karo Murat in Atlantic City blickt SPOX auf eine einzigartige Karriere zurück.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Sie war müde. Erschöpft. Der Kampf gegen den Krebs hatte sie viel Kraft gekostet. Doch Shirley Hopkins hatte noch einen letzten Wunsch, bevor sie die hiesige Welt verlassen würde.

Ihr Sohn sollte ein Versprechen abgeben. Kaum jemand würde wohl in diesem Moment seiner Mutter etwas abschlagen. So schwor Bernard Hopkins, seine Handschuhe an den Nagel zu hängen, sobald er seinen 40. Geburtstag hinter sich gebracht hatte.

Das war 2003. Zehn Jahre später steht Hopkins immer noch im Ring. Als Weltmeister. Der Bart mag grau geworden sein, die Falten ein weniger tiefer. Doch das Feuer in seinem Herzen brennt vor der Titelverteidigung gegen den Deutschen Karo Murat am Samstag in Atlantic City weiter.

"Es kommt auf den Kilometerstand an"

"Es kommt nie auf das Alter an. Nur weil ein Auto das Baujahr 1965 hat, muss es doch nicht alt sein. Es kommt auf den Kilometerstand an. Auf den Motor, die Reifen", vergleicht sich Hopkins mit einem gut erhaltenen Oldtimer.

Wie die meisten Oldtimer hat auch Hopkins eine mehr als bewegte Geschichte hinter sich. Angefangen hat alles vor langer Zeit in Philadelphia, der Stadt des Boxens - aber auch eine Stadt, in der in den 70er und 80er Jahren die Kriminalität regierte. Das bekam in seiner Kindheit auch Hopkins zu spüren. Als Opfer, wie bei der Messerattacke durch den Freund seiner Schwester, die er nur knapp überlebte. Aber auch als Täter.

Hopkins war kein Kind von Traurigkeit. Er machte sich seine eigenen Gesetze, klaute Schmuck und Geld und ließ sich von niemandem etwas sagen: "Die meisten Leute, die ich bestohlen habe, waren harte Karle. Aber ich war härter. Ich hatte jedoch gewisse Regeln: Frauen und der Einsatz von Waffen waren tabu. Ich schüchterte meine Gegner eher mit Worten ein."

Im jugendlichen Leichtsinn schien er keine Grenzen zu kennen. "Entweder ist man ein Wolf oder ein Schaf", beschreibt er Jahre später seine damalige Einstellung zum Leben. Doch wie bei den meisten Wölfen kam der Tag, an dem er gefangen wurde. Mit 17 saß er mal wieder einem Richter gegenüber. Das Urteil: 18 Jahre Haft. "Ich kann niemandem einen Vorwurf machen. In zwei Jahren war ich 30 Mal vor Gericht. Das Gefängnis war wohl die einzig richtige Lösung."

Hopkins' Nummer: Y4145

Er tauschte die so geliebte Freiheit auf den Straßen Philadelphias gegen das triste Leben in der Graterford State Penitentiary ein. Er war nicht mehr Bernhard Hopkins, Sohn von Shirley und Bernard Hopkins Senior. Er war nur mehr eine Nummer: "Y4145. Das war meine Nummer im Gefängnis. Die werde ich nie vergessen."

So hätte die Geschichte von Bernard Hopkins ein trauriges Ende nehmen können. Als Aktenzeichen in einem verstaubten Schrank mit anderen gescheiterten Existenzen. Doch im Gefängnis änderte sich etwas. Der brutale und rücksichtslose Alltag öffnete ihm die Augen.

"Ich war umgeben von Mördern, Vergewaltigern und Skinheads. Das war nie mein Ziel. Als ich gesehen habe, wie ein Kerl für eine lumpige Zigarettenschachtel ermordet worden ist, hat es klick gemacht. Ich wusste, dass es so nicht weitergehen konnte", so Hopkins. Er suchte nach Möglichkeiten, seine Energie in etwas Sinnvolles zu stecken, und entdeckte das Boxen für sich.

Ring als Zufluchtsort

"Der Ring war mein Zufluchtsort. Ich habe mir immer wieder gesagt: 'Du kommst hier raus, und dann wirst du Champion.'" So überstand er seine Jahre hinter Gittern, unterstützt von seiner Mutter, die ihn zweimal in der Woche besuchte. Egal ob Schnee, Regen oder Wind, nichts konnte Shirley Hopkins von ihren Besuchen abbringen.

Nach fünf Jahren wurde Hopkins vorzeitig entlassen. Doch die Vergangenheit holte ihn bereits nach wenigen Schritten in Freiheit ein. Ein Gefängniswärter ließ es sich nicht nehmen, Hopkins mit einem Versprechen zu verabschieden.

"Wir sehen uns eh wieder", sollen seine Worte gewesen. Der junge Hopkins wäre ihm wohl an die Gurgel gesprungen. Doch sein Alter Ego ließ Hopkins hinter den Mauern zurück. Er wartete eine Sekunde, drehte sich um und schmunzelte dem Wärter entgegen: "Das glaube ich kaum. Ich kehre nie wieder zurück."

Pleite im ersten Kampf

Er sollte Recht behalten. In den darauffolgenden Monaten befreite er sich von vielen alten Lastern. Er schwor den Drogen ab, verzichtete auf Fast Food und konvertierte zum Islam. Seinen ersten Profikampf am 11. Oktober 1988 verlor er trotzdem. 16 Monate knabberte er an dieser Niederlage, zweifelte sogar an seinem großen Traum.

Doch er rutschte kein zweites Mal ab und blieb zwischen 1990 und 1992 in 21 Kämpfen ungeschlagen. 16 Fights beendete er vorzeitig, 12 sogar per Knockout in der ersten Runde. Der "Executioner" war geboren.

"Ich wusste, dass sich das eigentlich dumm anhört. Aber mir ist nichts anderes eingefallen, und dadurch hatte ich einen Wiedererkennungswert und bekam TV-Zeit", erklärte Hopkins den Ursprung seines Spitznamens.

Erster Titelkampf gegen Jones

Doch nicht nur deswegen bekam er bald die erste Chance auf einen großen Titel. Der vakante IBF-Gürtel im Mittelgewicht stand auf dem Spiel, als er am 22. Mai auf einen gewissen Roy Jones jr. traf. Fünf Jahre waren damals vergangen, seitdem er das Gefängnis verlassen hatte.

Er war angekommen, auch wenn ihm das Happy End gegen Jones verwehrt blieb. Stattdessen wurde sein Wille erneut auf die Probe gestellt, als sich Hopkins in Quito, in einer Höhe von 2850 Metern, gegen Segundo Mercado trotz zweier Niederschläge zu einem Unentschieden quälte.

Der Lohn wartete zwei Jahre später auf ihn, als er sich gegen denselben Gegner seinen ersten WM-Titel holte. Die Regentschaft von Bernard Hopkins begann. Am Ende der 90er Jahre, nach insgesamt 12 Titelverteidigungen, war er nicht nur angesehen. Einige Experten sahen in dem Executioner sogar die Pound-for-Pound-Nummer-eins. Zum Liebling der Massen wurde Hopkins trotzdem nicht. Denn der böse Junge aus den Straßen Philadelphias lebte weiter.

Auf den Spuren von Hagler

Er ließ sich nicht den Mund verbieten, legte sich mit Promotern an und ging ohne Rücksicht auf Verluste seinen Weg. Als er bei der Pressekonferenz vor seinem Kampf gegen Felix Trinidad auf der Flagge Puerto Ricos herumtrampelte und seinen Gegner als Terroristen beschimpfte, war der Aufschrei in der Öffentlichkeit vorprogrammiert.

Ein Provokateur - aber ein erfolgreicher Provokateur. Er fügte Trinidad 2001 dessen erste Niederlage zu, nachdem er vor dem Kampf 100.000 Dollar auf sich selbst gewettet hatte, und vereinigte drei WM-Titel im Mittelgewicht. Der legendäre Marvin Hagler war der letzte Boxer, dem das gelungen war.

In den Jahren darauf folgten weitere große Siege. Gegen Oscar de la Hoya gelang es ihm, als erster Boxer der Geschichte alle Mittelgewichts-Gürtel sein Eigen zu nennen. Vielleicht wäre es der perfekte Augenblick gewesen, um dem Boxgeschäft Lebewohl zu sagen.

Die Metamorphose

Doch sein 40. Geburtstag kam und ging, und Hopkins schien das Versprechen an seine Mutter bereits vergessen zu haben. Stattdessen entwickelte er sich weiter.

Er merkte, wie die Schlagkraft, die ihn lange Jahre auszeichnete, langsam verschwand und konzentrierte sich zunehmend auf seine Verteidigung. "Die jungen Wilden versuchen Hopkins zu überrennen. Aber er zieht sie zu sich heran und umklammert sie fester als Willie Nelson sein Bandana", versuchte Box-Analyst Bert Sugar Hopkins' neue Taktik, nach wenigen Schlägen sofort in den Clinch zu gehen, zu erklären.

Diese Metamorphose, die sich in den letzten Jahren mit Siegen über Kelly Pavlik, Antonio Tarver und Jean Pascal fortsetzte, fand im März 2013 ihre Krönung. Mit einem Erfolg über Tavoris Cloud sicherte sich Hopkins den IBF-Titel im Halbschwergewicht und krönte sich mit 48 zum ältesten Champion aller Zeiten.

Das Alien

Der Eintrag in die Geschichtsbücher war gleichbedeutend mit dem Ende einer Ära. "Der Executioner ist tot. Ich bin ein Alien. So will ich gesehen werden. Das ist auch die einzige Erklärung, warum ich mich seit drei Jahrzehnten in diesem Business halten kann. Sie müssen mein Blut testen, ich komme wahrscheinlich vom Mars", tönte Hopkins zuletzt.

Das mag kurz vor Halloween und seinem Duell mit Murat, der kaum die Mittel hat, um Hopkins in Rente zu schicken, nur ein kleiner Medien-Gag sein, entspricht aber zumindest im übertragenen Sinne der Wahrheit. Um diesen Eindruck zu verstärken, will er am Samstag sogar mit einer Alien-Maske zum Ring kommen. Aber mit Versprechen ist das ja immer so eine Sache...

Alle Weltmeister der vier großen Verbände im Überblick