Klitschko-Gegner oder ein Niemand

Von Norbert Pangerl
David Haye (l.) und Dereck Chisora machten die letzten Monate viel Wirbel um ihren Kampf
© Getty

Für die einen ist es "der größte britische Kampf aller Zeiten", für die anderen lediglich eine "Freak-Show". Klar ist: Kein Kampf sorgte in Europa in den letzten Monaten für mehr Aufruhr als die Schlacht zwischen Haye und Chisora am Samstag (22.30 Uhr im LIVE-TICKER). Und das, obwohl in London kein WM-Gürtel auf dem Spiel steht - dafür aber viel Geld und die Karriere beider Kontrahenten.
 

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Eigentlich sollte es nur eine ganz normale Pressekonferenz nach einem mittelmäßigen Boxkampf werden, als Witali Klitschko und sein wacker kämpfender, aber unterlegene Kontrahent Dereck Chisora nach ihrem Fight im Februar in München auf das Podium kletterten.

Ein bisschen "Respekt für Dereck für seine couragierte Leistung" da, ein bisschen "er ist ein wahrer Champion" da - also das, was man in den letzten Jahren von den Klitschko-Kämpfen gewohnt war. Sportliche Dominanz oder im negativem Sinne Langeweile im Ring und auch außerhalb. Zwei ukrainische Ehrenmänner eben, die ihren Sport fast nach Belieben beherrschen und auch als nette Schwiegersöhne eine gute Figur abgeben.

Dass es diese Pressekonferenz trotzdem in die Gazzetten rund um den Globus schaffte und mit dem zweifelhaften Prädikat "denkwürdig" versehen wurde, verdankte sie einem Boxer, der an diesem Tag gar nicht im Ring stand, trotzdem aber allgegenwärtig war: David Haye.

Video: Die denkwürdige PK

Der Ex-Weltmeister, der nach vollmundigen Ankündigungen im Juli 2011 gegen den jüngeren der beiden Klitschkos eine herbe Niederlage einstecken musste und danach seine Karriere für beendet erklärte, war in der Olympiahalle als Boxexperte für "BoxNation" im Einsatz. Dem Sender, der pikanterweise von Frank Warren, dem Promoter von Chisora, betrieben wird. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Perfekte Inszenierung

Als also der auch für die Pressekonferenz akkreditierte Experte Haye und der Verlierer des Abends, Chisora, verbal und anschließend auch tätlich aneinander gerieten, war das eigentlich keine Überraschung. Vielmehr der Prolog eines nach dramaturgischen Gesichtspunkten vorhersehbaren Box-Schauspiels.

Zwei mehr oder weniger bekannte Boxer, deren Karrieren sich nach einer (Haye) bzw. drei Niederlage(n) aus den letzten vier Kämpfen (Chisora) auf dem absteigenden Ast befinden und die praktischerweise noch aus dem selben Land kommen, liefern sich ein Scharmützel, im Zuge dessen heftige Wörter fallen ("David, ich erschieße dich!") und sogar die Polizei ermittelt. Der gemeine Zuschauer dreht sich empört und angewidert ab, während der Promoter sich die Hände reibt.

Keine drei Monate später war es dann soweit. Die Streithähne sollten ihre Dissonanzen wie zivilisierte Menschen sportlich im Ring klären, konnte man hören. "Der Fight ist legal, ehrenvoll und wird stattfinden", frohlockte Promoter Warren, als er Datum, Ort und Zeit des "größten britischen Kampfes aller Zeiten" bekanntgab. Über 30.000 Zuschauer wollen das Spektakel im Upton Park von West Ham United live verfolgen, auch wenn es bis zuletzt eine erbitterte Fehde um die Lizenzierung der beiden Sportler gab.

Kampf unter Luxemburger Lizenz

Nach den Vorkommnissen in München hatte das altehrwürdige British Boxing Board of Control Chisora die Lizenz entzogen. "Das Board hat entschieden, dass Dereck Chisora nicht würdig ist, eine Lizenz zu haben. Sie wird ihm mit sofortiger Wirkung entzogen. Sein Verhalten war schlimm für den gesamten Boxsport", so Robert Smith, Generalsekretär des BBBofC-Boards. David Haye hatte da längst keine mehr. Unter großem Getöse hatte er sie nach dem Fight gegen Wladimir Klischko zurückgegeben.

Was in jeder anderen Sportart zum Kollaps der Veranstaltung führen würde, ist im Boxen jedoch kein Problem. Luxemburgs Boxverband sprang unter Protest der britischen Kollegen ein und sanktionierte den Showdown der beiden Bösewichte. "Es geht nur darum, Kohle zu machen, es geht nur um Quote", echauffierte sich auch Thomas Pütz, Präsident des Bundes Deutscher Berufsboxer (BDB).

Unter dem Motto "Licensed to thrill" hatte man umgehend auch einen passenden Slogan für das Pay-TV-Event, das von "Sky Select" bis zum 13. Juli für 20 Euro und bis zum Kampftag für 25 Euro käuflich erworben werden kann. Inklusive Experten-Meinung von Axel Schulz und fachkundiger Begleitung von Comedian Oliver Pocher.

Fight zweier Top-Ten-Schwergewichtler

Doch was ist eigentlich der sportliche Wert dieser Veranstaltung, die Haye kolportierte 3,7 Millionen und Chisora 1,7 Millionen Euro einbringt? Ist es tatsächlich so, dass es sich um ein "sportlich uninteressantes Duell" handelt, in dem "zwei mittelprächtige Fighter Kasse [machen]", wie der "Focus" schreibt. Mitnichten. Dass beide Kombattanten die Gelegenheit nutzen, um ordentlich abzusahnen, ist klar und legitim. Darüber hinaus hat das Duell aber auch einen sportlichen Reiz.

Abgesehen von dem ganzen Ballyhoo stehen sich zwei Top-Ten-Schwergewichtsboxer im Ring gegenüber. David Haye war bereits Weltmeister, beherrschte zuvor das Cruisergewicht und galt bis zu seiner Niederlage als einziger würdiger Herausforderer der Klitschkos.

Chisora lieferte Witali Klitschko das härteste Gefecht seit Corrie Sanders im Jahr 2004 und wurde davor gegen Sauerland-Hoffnungsträger Robert Helenius um den Sieg gebracht. "Sportlich wertlos" ist etwas anderes.

Unterschiedlicher Style=Attraktivität?

Vor allem die unterschiedlichen Stile beider Boxer versprechen einen abwechslungsreichen Schlagabtausch. Technisch ist Chisora dem drei Jahre älteren Haye unterlegen. Aber vor allem gegen Helenius und Witali Klitschko zeigte "Del Boy", dass er es versteht, Druck zu machen und mit einer guten Workrate häufig auch den Körper des Gegners zu attackieren.

In diesen Kämpfen zeigte er zudem, dass er gegen schlagstarke Gegner über die volle Distanz gehen kann, was ihm zusätzlich Selbstvertrauen geben dürfte. Und auch in puncto Fitness scheint der 28-Jährige aus der Vergangenheit gelernt zu haben. Anders als bei seiner Niederlage gegen Fury präsentierte er sich mit beim Weigh-in mit 112kg im grünen Bereich.

Haye dagegen ist technisch viel weiter, in seinen Aktionen explosiver und zudem sehr schnell auf den Beinen. Gegen Wladimir Klitschko ging er jedoch zu wenig Risiko, was ihm nach dem Kampf herbe Kritiken einbrachte und auch ein Stück weit seinen Ruf ramponierte. Auch seine Workrate ist ziemlich niedrig. Er vermeidet wo es geht den Infight und boxt gerne von Außen. Selbst an den Seilen ist er schwer zu treffen.

Nur wenn es Chisora gelingt, Haye zu stellen, dann hat der Außenseiter eine Chance. Auch weil Haye seit längerem nicht mehr gegen einen nach vorne marschierenden, robusten Mann im Ring stand.

Darüber hinaus spricht das Gewicht für Chisora, denn die 17kg, die Haye trotz Größenvorteilen weniger auf den Rippen hat, sind im Schwergewicht nicht zu unterschätzen. Zieht Haye jedoch seinen Stil durch, dann dürfte es für den gebürtigen Simbabwer nichts zu holen geben. Zu durchschnittlich sind Punch, Speed und Timing. Die Ansetzung auf nur 10 Runden spielt Haye außerdem konditionell in die Karten.

Letzte Chance auf Klitschko

Klar ist: Beide Fighter brauchen diesen Kampf, um sich wieder im Konzert der Großen, sprich bei den Klitschkos, anzumelden. Besonders Haye wäre bei einer Niederlage endgültig aus dem Rennen und als Schwergewichtler auf ganzer Linie gescheitert. Allein das wird dem Mann mit dem großen Ego motivieren.

"Er ist ein idealer Gegner für mich. Ich bin froh, dass er ein so gutes Kinn hat, denn wenn nicht, würde ich ihn in der ersten Runde abschießen. So gebe ich ihm eine schöne, langsame Tracht Prügel und werde das nachholen, was ich in München versäumte: ihm das Maul zu stopfen", tönte Haye im Vorfeld. "Ohne mich wäre er nichts weiter als eines zahlreicher anonymer Klitschko-Opfer. Nachdem ich mit ihm fertig bin, wird er wieder ein absoluter Niemand sein", so der Hayemaker weiter.

Auch Chisora müsste bei einer Niederlage wohl auf die ganz großen Töpfe verzichten. Dementsprechend ist sich auch er sicher: "Ich werde der verrückteste Chisora sein, der jemals in den Ring gestiegen ist. Alles ist super verlaufen, ich habe keine Verletzungen und werde einen großartigen Fight abliefern."

Diese Konstellation verspricht also trotz der eher zweifelhaften Umstände einiges an Spannung. Etwas, das man bei den letzten Fights der Klitschkos schmerzlich vermisste.

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