Im Ring mit Freunden

Von Thomas Jahn
SPOX-Redakteur Thomas Jahn (r.) feilt an seiner Führungshand
© SPOX.com

Prügeleien, Schiebung und Verbindungen in die Halbwelt: In Zeiten von Haye, Chisora und Co. könnte der Ruf des Boxens kaum schlechter sein. Doch es geht auch anders: Im Münchner Boxwerk entdeckt SPOX-Redakteur Thomas Jahn die gute Seite des Boxens - und erlebt dabei dennoch ein Waterloo nach dem anderen.

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Auf einmal dreht sich alles. Die Ringseile, die Hantelbänke, die Schweißlache zu meinen Füßen. Für einen Moment wird mir schwarz vor Augen. Knie, Arme, Beine, der Kopf: Sie alle flehen mich an, endlich zu Boden zu gehen. Es ist kein gegnerischer Treffer, der mich ausknockt - es sind die "Skippies". Eine Übung so brutal wie einfach: Rechtes Knie hoch, linke Faust zum Sandsack, linkes Knie hoch, rechte Faust zum Boxsack - immer wieder, drei Minuten lang Trommelfeuer.

"Alles okay?", fragt mich Trainer Nick Trachte. "Ja, alles gut. Geht noch", lüge ich. 90 Minuten körperlicher Grenzerfahrung liegen hinter mir, diese falsche Eitelkeit beschert mir weitere zwei Minuten mit einem fünf Kilogramm schweren Hammer und einem Traktorreifen - bis ich schließlich in Richtung Dusche taumele.

Aus Russland komme diese uralte Übung mit dem Reifen, erklärt mir Trachte, Chef des Münchner Boxwerks, als ich wieder bei Sinnen bin. Im Erscheinungsbild seines Gyms fügt sie sich nahtlos ein. Alte Kampfplakate von Ali, Frazier und Tyson zieren die Wände, die abgewetzten Sandsäcke verbreiten den Duft von altem Leder. Dazu schallen Funk-Klassiker aus den Lautsprechern. "Ich wollte es oldschoolig aussehen lassen, wie in den 60er und 70er Jahren. Du bist wie in einem Film, wie in einer anderen Welt und atmest es einfach ein", sagt Trachte.

Schach statt Straßenschläger

In seinem "Wohnzimmer" soll es familiärer zugehen als in der Durchschnitts-Boxklitsche. "Wir bieten einen geschützten Rahmen, jeder ist willkommen. Im Vordergrund stehen das Miteinander, Disziplin und der olympische Fairness- und Sportcharakter."

Bad Boys wie Chisora und Haye sind folglich die Antithese zu seiner Philosophie: "Das ist letztendlich traurig, dass Boxen auf so einem Niveau stattfindet. Leider ist das aber die Realität und das ärgert mich." In seinen Hallen sei das anders. "Hier sind nicht die typischen Straßenschläger. Geduldet werden nur die, die respektvoll auftreten", versichert Trachte. Für ihn ist das Boxen kein "blödes Draufhauen". Vielmehr sieht er den Sport als "Fechten mit den Fäusten", ein Schachspiel im Ring, an.

Wenn das hier tatsächlich ein Schachspiel ist, bin ich eindeutig der Bauer. Mein erster Sparringspartner heißt Marcel, ist 42 und arbeitet als Regisseur. Meine Aufgabe: Ihn mit der Führungshand zu erwischen - ohne dass er zurückschlägt. Nach 30 Sekunden weiß ich: Daraus wird nichts. Denn im Ring habe ich zwei Gegner: Marcel und mich.

Immer wieder stürme ich frontal auf ihn zu, verknote mir Arme und Beine und verliere mit jedem Schlag an Kraft. Marcel gleitet dagegen durch den Ring wie Ali zu seinen besten Zeiten. Meine jämmerlichen Geraden prallen wie Flummis an seiner Deckung ab: Schachmatt.

Joseph, die menschliche Mauer

Nächster Versuch: Diesmal trete ich gegen Joseph an, einen 53-jährigen Informatiker. Im Schulterclinch sollen wir uns mittels Körperspannung, Gewichtsverlagerung und Beinarbeit gegenseitig in die Ringseile drücken. Josephs Alter und die schlanke Statur lassen auf einen schlagbaren Gegner schließen.

Ich gebe alles, stemme mich schnaufend in meinen Gegner - da muss doch was gehen - Pustekuchen! Mein erfahrener Gegner beherrscht seine Füße perfekt und verwandelt sich in eine unüberwindbare Mauer. Dass er dabei keine Miene verzieht und mir nach dem Piepen der Ringuhr wohlwollend auf die Schulter klopft, tut mehr weh, als die Muskelkrämpfe, die meinen Körper durchzucken.

"Der Ansatz für jeden Schlag entsteht in den Füßen. Die Beinarbeit ist beim Boxen die Basis", erklärt mir Trainer Trachte die Gründe für mein Waterloo gegen den 23 Jahre älteren Mann. Und der ist bei weitem nicht der betagteste im Gym. Der älteste Trainingsgast im Boxwerk ist 70, die jüngsten sind acht.

Die Mischung der über 120 Trainierenden sieht Trachte mit 20 Prozent Frauenanteil und 70 Prozent Breitensportlern als "untypisch" an. Sie teilen sich das Gym mit einer Amateur-Wettkampfmannschaft und fünf Profis - darunter ein amtierender Europameister. Doch mit Aktionen wie Kinderboxen, Schachboxen (sechs Runden Schach, fünf Runden Boxen) oder einem speziellen Training mit Opernsängern für deren Aufführung erreicht Trachte eben auch Menschen außerhalb der Box-Szene.

Für zehn Dollar: Knastboxen mit Mexikanern

Seit Kindestagen dreht sich Trachtes Leben um den Kampfsport. Nach seiner Karate-Ausbildung folgten Ausflüge ins Kick- und Thaiboxen. Während eines mehrjährigen USA-Aufenthalts entdeckte er seine Liebe zum klassischen Boxen, als er im fünften Stock eines leer stehenden Gefängnisses mit einer Gruppe von Mexikanern boxte. "Das hat nur 10 Dollar im Monat gekostet und es war total abgefahren, zwischen all diesen alten Gitterstäben zu boxen. Die Jungs sahen gefährlich aus, aber haben mich super aufgenommen", erinnert sich der 38-Jährige.

Zehn Jahre später, während einer Zugfahrt von Shanghai zu den Olympischen Spielen nach Peking beschloss er, sein Glück in die Hand zu nehmen. Trachte mietete eine alte Druckerei in der Münchner Maxvorstadt und baute sie mithilfe von Freunden zum Box-Gym im US-Stil aus. In den oberen Etagen des Hauses finden sich Grafiker, Verleger und eine Filmproduktionsfirma. Sie alle trainieren nach der Arbeit im Boxwerk und begreifen das Haus als Einheit, das unter dem Motto "Zammat" zusammensteht.

Gejagt von einer Raubkatze

Egal ob Grafiker, Verleger oder Filmemacher: Als Trachte schließlich höchstpersönlich gegen mich in den Ring steigt, wäre ich für jede Hilfe dankbar. Drei lange Minuten muss ich seinen behutsamen Hieben auf Kopf, Schulter und Körper entkommen. Die zeitgleiche Konzentration auf Beinarbeit, Ausweichen, die Orientierung im Ring und die ansatzlosen Attacken meines Gegners überfordern mich kolossal.

Wie eine Raubkatze jagt er mich durch den Ring, trifft mich wann, wie und wo er will. Immer wieder schaue ich aus dem Augenwinkel sehnsüchtig auf die runter tickende Ringuhr. Die Kraft schwindet, ständig scheppert es. Noch 60 Sekunden. Trachtes rotes Shirt fliegt durch den Ring, ich nehme es nur noch schemenhaft wahr. Ich atme schwer, komme nicht mehr von der Stelle, kassiere Treffer um Treffer. Endlich erlöst mich die Rundenuhr - ich hänge in den Seilen.

Auch wenn ich an diesem Tag ein denkbar leichtes Opfer bin, prophezeit mir Trachte eine glorreiche Zukunft im Boxen: "Wenn du drei Monate regelmäßig trainierst, sehe ich kein Problem, dass du auch mal ein bis zwei Runden stehen bleibst."

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