Handball - Stefan Kretzschmar im Legenden-Interview: "Wodka Lemon in Dosen fanden wir überragend"

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SPOX: Es gibt immer wieder Erzählungen, die darauf schließen lassen, dass es bei Olympia in Atlanta 1996 besonders hoch hergegangen ist. Kam vom Spaßfaktor irgendein anderes Turnier an Atlanta heran?

Kretzschmar: Die großen Turniere hatten in der Regel mit Spaß nicht viel zu tun. Da war die Mannschaft während der Turniere eigentlich immer vernünftig, es herrschte dann eine relativ große Disziplin. Gut: In Atlanta sind wir früh ausgeschieden, danach wurde zugegebenermaßen Gas gegeben. Generell war es aber eher so, dass die großen Spaßmomente bei anderen Gelegenheiten stattfanden.

SPOX: Zum Beispiel?

Kretzschmar: Vor Olympia 2004, wo wir letztlich Silber holten, absolvierten wir ein vierwöchiges Trainingslager, das völlig irre war. Mir ist heute noch rätselhaft, wie Heiner Brand auf die glorreiche Idee kam, ein Vorbereitungslager mitten in Köln zu absolvieren. Entsprechend sah dann die Vorbereitung auch aus. Im Training haben wir zwar Gas gegeben, aber was die Freizeitgestaltung betrifft, haben die Wochen in Köln Maßstäbe gesetzt. Mehr will ich dazu nicht sagen. (lacht)

SPOX: Was war denn rückblickend das Highlight überhaupt mit dem DHB?

Kretzschmar: Das Highlight war kein großer Sieg, sondern elf Jahre Nationalmannschaft insgesamt. Ich durfte mit tollen Jungs eine tolle Zeit verbringen, die immer Spaß gemacht hat. Es waren kleine Momente, die wir groß machten und die bis heute in unseren Erinnerungen sind. Dabei konnte es sich um eine einfache Busfahrt, um Gespräche nach dem Abendessen oder um eine Zimmerparty handeln. Ob mit Christian Schwarzer, Daniel Stephan oder Henning Fritz - da sind Freundschaften entstanden.

SPOX: Gibt es denn ein Negativerlebnis, das Ihnen in Erinnerung geblieben ist?

Kretzschmar: Schlimm war für mich Sydney mit dem Aus im Viertelfinale gegen Spanien, als ich den letzten Wurf an die Latte setzte. Meiner Meinung nach waren wir zu dieser Zeit die beste Mannschaft der Welt. Hätten wir dieses Viertelfinale gewonnen, wären wir Olympiasieger geworden, glaube ich. Mit dem verlorenen Finale in Athen kann ich viel besser leben, weil ich anerkennen muss, dass Kroatien an diesem Tag einfach besser war. Rückblickend gesehen sind Niederlagen die Momente, in denen du anfängst nachzudenken. Deshalb bin ich heute für erlittene Niederlagen sogar dankbar, weil sie einen irgendwie zu einem etwas besseren Menschen machen.

SPOX: Ihre erfolgreichste Zeit erlebten Sie in Magdeburg, wo Sie ab 1996 spielten. Dort hielt sich die Begeisterung anfangs in Grenzen. Es sollen sogar Spieler zum damaligen Manager Bernd-Uwe Hildebrandt gegangen sein, um gegen Ihre Verpflichtung zu protestieren.

Kretzschmar: Ich hatte gerade einen Vertrag bei Nike unterschrieben und Magdeburg war als Verein bei Nike unter Vertrag. Der Nike-Ansprechpartner für mich war auch der des SCM. Der hat mir mitgeteilt, was die Mannschaft davon hält, dass ich komme. Das hätte ich lieber nicht wissen wollen. In Magdeburg zählt ehrliche Arbeit, da wurde im Handball immer gekämpft. Ein Paradiesvogel wie ich, als der ich damals galt, passte da eigentlich überhaupt nicht rein. Der einzige, der mich unbedingt wollte, war Manager Hildebrandt, weil er die Vision hatte, eine neue Halle für 7500 Zuschauer zu bauen und die Champions League zu gewinnen. Er wusste, wenn er diese Halle füllen will, benötigt er Attraktionen. Dann kam er zu mir nach Gummersbach und sagte, dass er mich, - übertrieben formuliert - koste es was es wolle, holen möchte. Das war für mich natürlich ein Argument.

SPOX: Waren die Spieler, die Sie nicht haben wollten, der einzige Grund dafür, dass Sie sich anfangs nicht wohlgefühlt haben?

Kretzschmar: Das war nur ein Grund. Hinzu kam, dass ich den SCM zwar mochte, ich damals die Stadt an sich aber für nicht sonderlich attraktiv hielt. Mittlerweile hat sich das geändert, die Stadt hat sich gut entwickelt. Damals war es aber eher trist. Mein Plan war, in Magdeburg zu unterschreiben und in Berlin eine Wohnung zu nehmen und zu pendeln. Anfangs erschien mir das völlig logisch, der Plan entpuppte sich aber natürlich als völliger Schwachsinn, weil unfassbar viel Zeit drauf ging. (lacht)

SPOX: Hildebrandt hat den Klub groß gemacht, ihn später aber durch dubiose Vorgehensweisen in arge Schwierigkeiten gebracht. Wie haben Sie ihn erlebt?

Kretzschmar: Hildebrandt war ein Visionär, ein hemdsärmeliger Typ mit einer gewissen Bauernschläue. Er war kein Intelligenzbolzen, hatte erst recht keine Ahnung von Handball. Aber er war ein Macher. Er war jemand, der immer groß dachte. Wenn er beispielsweise ein politisches Problem hatte, wollte er gleich den Bundeskanzler anrufen. Mit diesem Selbstverständnis und einer gewissen Dreistigkeit öffneten sich für ihn alle Türen. Er war damals in Magdeburg die wichtigste Person, wichtiger als der Bürgermeister. Er war als Imperator von Magdeburg bekannt. Er hat verstanden, wie damals das Zusammenspiel aus Sport und Wirtschaft funktionierte. In Magdeburg war es wichtig, im VIP-Raum des SCM zu sein, weil dort Geschäfte gemacht wurden. Er baute diese Halle, holte diese Mannschaft, die in der Lage war Meister zu werden und die Champions League zu gewinnen und bezahlte sie auch - irgendwie.

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SPOX: Wie kam es dazu, dass es plötzlich in die andere Richtung ging?

Kretzschmar: Es kam Neid auf, Hildebrandt ist ein paar Menschen zu viel auf die Füße getreten. Dann brach alles zusammen, was hinter den Kulissen nur durch seidene Fäden zusammengehalten worden war. Aus meiner ganz persönlichen, egoistischen Sicht muss ich eigentlich sagen: Er war ein Glücksfall für diesen Verein. Dass dabei natürlich vieles nicht legal war, kam ans Tageslicht und wurde bestraft. Ich wage aber zu behaupten, dass es damals in über 60 Prozent aller Profivereine nicht wesentlich anders abgelaufen ist.

SPOX: Neben Hildebrandt war in Magdeburg Alfred Gislason eine der wegweisenden Personen.

Kretzschmar: Als Gislason nach Magdeburg kam, war er ein Niemand. Man dachte erst: Was wollen wir denn mit dem? Aufgrund seiner Art und seiner Aura räumte er diese Zweifel aber schnell aus. Er wurde sofort als Mensch akzeptiert, die Erfolge kamen. Man muss natürlich auch sagen, dass wir eine großartige Mannschaft hatten. Das Problem war: Es gab mit dem THW Kiel eine Mannschaft, die einfach fast immer noch besser war.