Hoch auf dem braunen Wagen

Von Johannes Mittermeier
Thomas Meggle (M.) 2012 als Interimstrainer beim FC St. Pauli
© getty

Nach der Entlassung von Roland Vrabec übernimmt ein Hamburger Idol den FC St. Pauli: Thomas Meggle, früher Weltpokalsiegerbesieger, später U-23-Trainer, soll den Spaß zurück ans Millerntor bringen. Er sagte Dresden ab, hält nichts von Vertikalpässen - und verzichtet auf ein kahlgeschorenes Haupt.

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Diesmal ist sich der FC St. Pauli tatsächlich untreu geworden. Seit 2008, als Holger Stanislawski den Klub zum zweiten Mal übernahm, einte alle Trainer ein charakteristisches wie unverwechselbares Merkmal: Die Glatze.

Der neue Hamburger Coach wird mit anderen Qualitäten überzeugen müssen. Es ist zu einem ungeliebten Ritual geworden, dass St. Pauli seine Übungsleiter im Jahrestakt austauscht. Als Stanislawski 2011 tränenreich Abschied nahm, folgte Andre Schubert, der noch witzelte, "das Haar offener" zu tragen. 2012 wurde Schubert auf die Abschussrampe ge- und von Michael Frontzeck ersetzt. Im Winter vergangenen Jahres stieg Roland Vrabec vom Co zum Chef auf. Er hielt sich keine zwölf Monate.

St. Paulis Aderlass auf der neuralgischen Trainerposition ist erheblich, jetzt soll es einer richten, der als Münchner geboren und als Hamburger sozialisiert wurde: Thomas Meggle, Vereinsikone und Kultfigur, Weltpokalsiegerbesieger und vormaliger U-23-Trainer. Einer mit braun-weißer DNA.

Standing und Stallgeruch

"Wir haben vollstes Vertrauen, dass er uns aus dem Tal der Tränen herausführt", sagt Pauli-Präsident Stefan Orth. Die demoralisierende 0:3-Pleite bei der SpVgg Greuther Fürth und Tabellenplatz 14 veranlassten die Vereinsoberen, den immer gleichen und doch immer hoffnungsgetränkten Rettungsanker zu werfen. "Der Trainer ist das schwächste Glied in der Kette", bemerkte Sportchef Rachid Azzouzi. Dann handelte er.

Meggle, den auf dem Kiez alle nur "Meggi" nennen, hat das, was Vrabec fehlte: Standing und Stallgeruch, Ersteres nicht zuletzt wegen Letzterem. Als Schubert einst beurlaubt wurde, schickten sie ihn interimsmäßig in die Verantwortung, bis zum Frühjahr 2013 war er Co-Trainer der ersten Mannschaft. Er kennt jeden, und jeder kennt ihn.

"Ich habe hier von Holger Stanislawski, Andre Schubert und Michael Frontzeck viel gelernt", betonte Meggle bei seiner Vorstellung, einer eilig einberufenen Pressekonferenz. Zögern oder gar zaudern musste er nicht, als die Anfrage kam: "Es gibt im Leben immer Züge, die vorbeifahren. Aber irgendwann muss man aufspringen. In diesem Fall war klar, dass ich diesen Zug nicht vorbeifahren lassen werde."

Demission auf Raten

Welch Laune der Fußballnatur war es, dass sich beide Hamburger Klubs an einem Wochenende blamierten: Am Samstag unterlag der Hamburger SV dem kecken Aufsteiger Paderborn mit 0:3. Ein Riesenspaß für Pauli-Fans. Zwei Tage später blieb ihnen das Lachen im Halse stecken.

"Wenn man so Fußball spielt, wie wir das getan haben, hinterfragen wir uns alle", sagte Azzouzi in Fürth. Gegenüber dem "Hamburger Abendblatt" erläutert er Hintergründe: "Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder mit Roland Vrabec nach Lösungswegen gesucht, müssen aber feststellen, dass die Hebel, die wir angesetzt, und die Maßnahmen, die wir ergriffen haben, nicht gefruchtet haben."

Michael Frontzecks Demission im Dezember 2013 war einigermaßen überraschend, denn sportlich lag St. Pauli auf Kurs. Unstimmigkeiten bei der Vertragsverlängerung kosteten Frontzeck den Job, Vrabec übernahm und gewann vier der ersten sechs Spiele. Seine emotional-impulsive Art schien zu fruchten, in der Winterpause erhielt er einen Kontrakt bis 2015. Noch am 25. Spieltag fehlte den Hamburgern nur ein Punkt zu Rang drei, dann aber stagnierte der Vorwärtsdrang.

Der lasche Saisonabschluss und ein einziger Sieg aus neun Spielen - das glückliche 2:1 über Sandhausen - brachten die Stimmung zum Kippen. Außerdem soll es sich Vrabec mit dem zurückgetretenen Ex-Kapitän Fabian Boll verscherzt haben, und wie das häufig so ist, wandeln sich die markanten Seiten in Angriffsflächen. Plötzlich wurde ihm seine extrovertierte Ader nachteilig ausgelegt...

"Harte Arbeit, viel Freude"

Und dann dieser Heimkomplex! "Wir wollen am Millerntor wieder den Fußball sehen, den wir uns wünschen, und nicht das, was wir dort zuletzt gesehen haben", trommelt Azzouzi für mehr Punkte und Unterhaltung. St. Paulis spielerische Entwicklung hatte faktisch ausgesetzt, seltsam orientierungslos trabten die Profis über den Rasen. "Die Auftritte haben uns nicht gefallen. Deshalb haben wir uns entschlossen, sofort die Reißleine zu ziehen", wirft Orth ein. Dabei ist der Präsident selbst auf Abschiedstournee, vor Wochen sickerte durch, dass der Aufsichtsrat gegen seine erneute Kandidatur gestimmt habe. Personalrochaden auf allen Ebenen.

Meggle soll ein Regulativ für Kompetenz und Kontinuität darstellen. Im Vorjahr dirigierte er die akut abstiegsgefährdete U 23 auf Platz neun, fünf Plätze und zwölf Zähler vor der HSV-Reserve. Ein Prestigeerfolg.

Mit keinem anderen Coach habe man vor Meggles Inthronisierung gesprochen, beteuert Azzouzi, während die neue Speerspitze folgende Parole ausgibt: "Von Tag zu Tag schauen, hart arbeiten und viel Freude haben!" Schmeckt nach Kiez.

Der 39-Jährige ist von der St.-Pauli-Vene durchzogen, mit kleineren Unterbrechungen war er von 1997 bis 2010 im Klub. Sein Karriereende und das hundertjährige Vereinsjubiläum fielen just zusammen, 2010, und als Meggle von den Fans in die "Jahrhundertelf" gewählt wurde, wurde er im "Abendblatt" fast philosophisch: "Man entscheidet sich in seinem Leben irgendwann für einen Verein - und dem bleibt man ein Leben lang treu."

Der kleinste gemeinsame Nenner

Natürlich musste Meggle andauernd von diesem 6. Februar 2002 berichten, die Leute lieben das. In der Aufstiegssaison 2000/2001 hatte der Mittelfeldspieler 13 Tore erzielt, an diesem Abend machte er sich unsterblich: 2:1 gegen Bayern München, ein eigener Treffer, ein T-Shirt für die Ewigkeit.

Wie war das mit der Laune der Natur? Seinen Einstand wird Meggle, der Münchner, am Sonntag feiern. Dann gastiert der TSV 1860 am Millerntor. "Wenn man es sich zutraut", sagt er, "muss man rein ins kalte Wasser." Er werde schuften "wie ein Verrückter", das sagte er auch.

Für St. Pauli schlug Meggle ein Angebot von Dynamo Dresden aus, verlängerte stattdessen bis 2017. Die Trainerausbildung absolvierte er mustergültig, schloss als Zweitbester ab, obwohl ihm die Verwissenschaftlichung der Sportart ein Gräuel ist. Thomas Meggle lebt die ungeschliffene Facette des Fußballs, und einmal fragte er, mehr sich selbst als in die Runde: "Warum muss man das, was man immer als Steilpass bezeichnet hat, jetzt unbedingt Vertikalpass nennen?"

Das ist der kleinste gemeinsame Nenner beim FC St. Pauli. Auch ohne Glatze.

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