Die alles entscheidende Sekunde

Ralf Rangnick und Alex Zorniger sind die Macher bei RB Leipzig
© getty

An RB Leipzig scheiden sich weiterhin die Geister. Doch das Trainingskonzept der Roten Bullen unter Sportdirektor Ralf Rangnick ist einzigartig - und zieht sich von den Profis bis hin zur U 8.

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Wirklich leise wird es nur selten auf dem Trainingsplatz in Leipzig. Für Außenstehende mag alles ein wenig unorganisiert wirken, beinahe hektisch. Die Spieler aus zehn verschiedenen Jugendmannschaften der Bullen fetzen über den Platz, dazwischen immer wieder Schreie: "Ja, jetzt, ja!", "In die Tiefe", "Gegenpressing, jetzt!"

Man sieht viele Ballverluste, Stoppfehler und überhastete Torabschlüsse. Doch das ist in Ordnung so, denn hier entsteht das, worauf Ralf Rangnick wartet. Auf eine starke eigene Jugend, die die Philosophie und die generelle Spielweise der RB-Klubs unter dem extra von Dietrich Mateschitz angeheuerten Sportdirektor komplett verinnerlicht.

Albeck als verlängerter Arm

"Je jünger, desto besser", erklärte Rangnick einst seine Transferphilosophie und versprach, für die erste Mannschaft keinen Spieler über 28 Jahre zu verpflichten. Die Ziele seien für den Profibereich immer Spieler zwischen "17 und 23 Jahren." Die Aussage lässt sich jedoch nicht nur auf die Politik auf dem Transfermarkt anwenden, denn in Leipzig beginnt bereits in der U 8 die Ausbildung zu einem waschechten Rangnick-Spieler.

Dafür hat der Ex-Hoffenheim-Trainer einen ihm gut bekannten Mann ins Boot geholt. Mit Thomas Albeck absolvierte er 1984 gemeinsam den DFB-Fußballlehrerlizenzgang und holte ihn bereits 1999 zum VfB Stuttgart. In der gleichen Funktion als Nachwuchsleiter arbeitet der ehemalige Profi der Stuttgarter Kickers nun auch bei RB.

Albeck definiert die Philosophie im Interview mit "dfb.tv" wie folgt: "Schnelles Umschaltspiel mit der möglichst kürzesten Zeit zwischen Balleroberung und Torabschluss." Die Grundlage dafür beginnt bereits in der Jugend - eben "je jünger, desto besser."

Ein bisschen Klinsmann bei RB

Die Kinder sollen auf die hohen psychischen wie physischen Anforderungen in den älteren Jugenden vorbereitet werden. Im Fokus steht dabei eine möglichst abwechslungsreiche und kreativfördernde Ausbildung im koordinativen Bereich, also im Umsetzen von Signalen über das zentrale Nervensystem bis in die ausführenden Gliedmaßen.

Dies beginnt bei scheinbar leicht zu bewältigenden Aufgaben wie dem gleichzeitigen Hochwerfen zweier Bälle mit parallelen Armen und dem anschließenden Auffangen mit überkreuzten Armen bis hin zu komplexen Laufaufgaben mit verschiedenen Farben, akustischen Signalen und Schrittreihenfolgen.

Life-Kinetik, so nennt sich dieses mentale Training, mit dem man - nicht nur in Leipzig - "Reaktionsstärke und geistige Frische" bei den Spielern fördern will, wie U-17-Coach Frank Leicht erklärt. Jürgen Klinsmann machte das Prinzip im deutschen Fußball salonfähig, so dass es inzwischen auch im DFB-Trainerlehrgang unterrichtet wird.

Eine ständige, sich nie wiederholende Belastung für das Gehirn soll die Konzentration fördern und einen immer wachen und aufmerksamen Spieler schaffen. Mit einem Ball durch einen Slalom dribbeln, dabei einen Ball zwischen den Händen hin und her werfen und anschließend eine zugerufene Farbe in eine Richtungsanweisung umsetzen und schnellstmöglich den Abschluss auf ein kleines Tor suchen - solche Übungen sind für Spieler in deutschen Leistungszentren nicht ungewöhnlich.

Gesondertes Techniktraining

In Leipzig wird dies jedoch noch einen Schritt weiter getrieben. Ein regelmäßiges, eigens stattfindendes Training zur Verbesserung der koordinativen und technischen Fähigkeiten wird zusätzlich zum normalen Training abgehalten. Dabei weicht man von der DFB-Philosophie merklich ab.

Denn Rangnick und sein Team wehren sich gegen das Trainingskonzept der ständigen Wiederholung, um eine Technik einzuüben. Vielmehr setzt man auf ein abwechslungsreiches Training. Die Fußballer sollen durch ständig wechselnde, spielnahe Aufgaben und eigene Entscheidungsfreiheit weg vom klassischen Übungsdurchlauf, bei dem beispielsweise der Pass mit der Innenseite einschleifend trainiert wird.

Schon dabei wird das simuliert, was später im Spiel zum Tragen kommt. Spieler gehen ihren Pässen in freien Spielformen immer aggressiv nach, ob sie nun zu einem Mitspieler oder einem Gegenspieler gespielt haben. Auf Kommando werden aus Mitspielern Gegner und aus Gegner plötzlich Mitspieler.

Übereinstimmung auf drei Kontinenten

Die Vorstellung ist klar. "Aggressives Vorwärtsverteidigen und Pressing. Bei eigenem Ballbesitz schnell und direkt nach vorne spielen, Quer- und Rückpässe sind da eher nicht so gefragt", machte Rangnick gegenüber der "Welt" deutlich. Das spiegelt sich in der Trainingsarbeit wieder. Keine Übung und keine Spielform werden ohne diese Hintergedanken umgesetzt.

Hilfestellungen erhalten die zahlreichen Trainer aus den vier Nachwuchszentren in Salzburg, Leipzig, New York und Sao Paulo nicht nur von ihren lokalen Kollegen, sondern auch von hunderte Kilometer entfernten Trainern. Zahlreiche Workshops, in denen in kleinen Gruppen ebenso gearbeitet wird wie es Vorlesungen und Gastvorträge gibt, helfen dabei, in jeder Jugend die Philosophie einzuhalten.

"Wer mehr sprintet hat bessere Chancen"

In den gemeinsamen Trainingslagern und Turnieren fehlt auch eines nie: Die zusätzliche Beratung durch ausgesuchte Physiotherapeuten, Ärzte und Sportmediziner. Denn, so erklärt U-15-Trainer Sebastian Kegel: "Wir sind überzeugt davon, dass derjenige, der mehr sprintet beziehungsweise läuft, am Ende bessere Chancen hat, das Spiel zu gewinnen."

Der erste Sprint ist entscheidend für das Spiel der Roten Bullen. Hierüber definiert sich das Verhalten des restlichen Teams, sowie der geglückte oder nicht geglückte Ausgang des aggressiven Gegenpressings. Die ständige Sprintbereitschaft jedes Spielers ist essentiell für die Marschroute, die vorgegeben wird.

Der Kumpel KAI

Immer wieder fallen im Training Sekundenangaben. Zehn Sekunden haben die B-Jugendlichen Zeit, im Training nach der Balleroberung oder einem Pass in die Tiefe auf das Tor zu schießen. Fünf Sekunden haben sie Zeit, nachzusetzen und den Ball zurückzuerobern, anschließend zieht man sich kollektiv zurück.

Profi-Trainer Alex Zorniger redet gegenüber seinen Spielern gern von "seinem Kumpel KAI - Kompakt, alle, immer". Dies ermöglicht die schnelle Balleroberung, denn Leipzig stellt stets Überzahl in Ballnähe her, um die Kugel möglichst schnell wieder unter Kontrolle zu bringen.

Um den jungen Spielern das Zeitgefühl mitzugeben, läuft auf dem Trainingsplatz bei ausgesuchten Übungen eine laute Stoppuhr mit. Beginnen die zehn Sekunden, beginnt auch die Stoppuhr mit einem unangenehmen, sehr schrillen Ton, bis der Ball verloren geht. Wird er zurück erobert, beginnt das Piepen erneut.

Meilensteine gegen den FC Bayern

Die Uhr findet sich auch bei der ersten Mannschaft wieder. Hier findet die Vereinigung aus Koordination, Technik- und Taktiktraining unter Zorniger momentan ihre Vollendung. Hohes Angriffspressing, schnelles Umschalten nach Ballverlust und nahezu überfallartige Konter in Überzahl sind das Markenzeichen der Mannschaften aus Leipzig und Salzburg geworden.

Etwa acht Sekunden brauchte man im zweiten Saisonspiel (3:0 gegen 1860 München) zwischen Balleroberung und Abschluss für das 1:0, etwas mehr als sieben Sekunden waren es beim 3:0. Sensationelle sechs Sekunden brauchten Salzburgs Kevin Kampl und Sadio Mane im Januar 2014 für den Führungstreffer gegen den FC Bayern München.

So schnell soll es in der Jugend noch nicht gehen. Aber man ist auf einem guten Weg. Rangnick kündigte 2013 an, in "zwei, drei Jahren" erste Früchte ernten zu wollen. Die Bundesliga ist gewarnt.

Der Kader von RB Leipzig

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