Wo das Sechzger-Herz höher schlägt

Von Jochen Tittmar
Das Grünwalder Stadion wurde 1926 offiziell eingeweiht
© Getty

Roman Beer, passionierter Fan des TSV 1860 München, kämpft seit Jahren für den Erhalt des altehrwürdigen Stadions an der Grünwalder Straße. In diesen Tagen wird es endlich saniert. SPOX spazierte mit ihm und weiteren Löwen-Fans durch den Stadtteil Giesing.

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Die dunklen Holzbänke der Haupttribüne knarzen, als die Teilnehmer Platz nehmen. Nach den Anstrengungen des Nachmittags schmerzt es, das Gesäß auf dem steinharten Untergrund zu platzieren. Das historische Grünwalder Stadion lenkt von der ruhigen Stimme Roman Beers ab, für den jetzt der wesentliche Teil seiner Führung beginnt.

Die Konzentration für Beers Detailvortrag über die Geschichte der altehrwürdigen Betonschüssel ist den vergangenen dreieinhalb Stunden zum Opfer gefallen. Ausgezehrte Gesichter blicken ihn an.

Vor Beer sitzen gut 35 Sympathisanten des TSV 1860 München. Der 31-Jährige ist 1. Vorsitzender der "Freunde des Sechz'ger Stadions" (FDS), einem eingetragenen Verein, der sich seit der Gründung 1996 für den dauerhaften Erhalt und eine vielfältige Nutzung des Stadions einsetzt.

Für einen Obolus von sechs Euro, die der 60-Jugend gespendet werden, breitet er zusammen mit einer FDS-Kollegin sein fundiertes Wissen aus. Die Teilnehmer gleichen einem Querschnitt der Anhängerschaft: Von jung über alt, mit wenigen und zu vielen Haaren, mit und ohne Fanschals, Frauen wie Männer.

Sanierung für über zehn Mio. Euro

Frühestens zur Spielzeit 2013/2014 wird sich wieder die Gelegenheit bieten, das Highlight dieses Stadtteilspaziergangs, der unter dem Namen "Auf den Spuren der Löwen durch Giesing" firmiert, in voller Pracht zu erleben. Der Grund: Das Städtische Stadion an der Grünwalder Straße verwandelt sich in diesen Tagen in eine Vollzeitbaustelle.

Ein Stadtratsbeschluss vom Dezember 2009 sieht vor, das Stadion für 10,28 Millionen Euro drittligatauglich zu modernisieren. Eine dringende Maßnahme, zumal das Stadion nach Aussage der Stadt mit bis zu 90 Spielen pro Jahr das meist genutzte der Bundesrepublik ist.

Einige Uhrzeigerumdrehungen zuvor in der Auenstraße im Münchner Glockenbachviertel. Der Turnhallenboden im ehemaligen Vereinsheim des TSV 1860 München verbiegt sich unter der Last der Besucher. Augenpaare mustern den Raum, an dessen Enden zwei alte Fußballtore stehen.

Beer - in ein T-Shirt mit der Aufschrift "100 Jahre Sechzgerstadion" gekleidet - hat hier erstmals das Wort. Den Nachmittag über wird er Einblicke in die Geschichte seines Lieblingsvereins gewähren und Fragen beantworten.

Mit dreizehn Jahren hatte ihn sein Vater erstmals mit ins Grünwalder Stadion genommen, das atmosphärische Kontrasterlebnis zum Olympiastadion fesselte ihn an 1860 und dessen Heimatstätte. Im Leistungskurs Kunst entwarf Beer später ein Konzept für den Um- und Ausbau des Stadions, nach dem Abitur begann er das Studium der Architektur.

Die Kaiser-Ohrfeige am Schyrenplatz

Zu Beginn der Exkursion steckt noch Leben in der Gruppe Unentwegter. So manche Hand greift früh zum ersten Bier. Unweit der Wittelsbacher Brücke wandern die Blicke zu einem älteren Ehepaar auf Fahrrädern, beide gekleidet in rote FC-Bayern-Shirts. "Pfui, schleicht's euch, ihr Sautreiba", pöbeln Teile der Meute los. Beer lächelt und fährt mit seinen Ausführungen fort.

Der Schyrenplatz wird erreicht, der erste Fußballplatz der Löwen. Die im April 1899, also fast 40 Jahre nach der offiziellen Gründung als "Verein zur körperlichen Ausbildung", ins Leben gerufene Fußballabteilung absolvierte hier am 27. Juli 1902 das erste Match ihrer Geschichte und verlor 2:4 gegen den 1. Münchner FC 1896.

Dieser Ort war 1958 zugleich Schauplatz der berühmten Ohrfeige von Löwen-Spieler Gerhard König gegen Franz Beckenbauer, woraufhin dieser entschied, sich nicht 1860, sondern dem FC Bayern anzuschließen. Die Löwen pachteten bald das Grundstück an der Grünwalder Straße. Davon wird Beer den Teilnehmern später im Stadion noch erzählen. Der Schyrenplatz existiert heute noch und wird durch die Stadt an Freizeitteams vermietet.

Bevor sich die Gruppe den Giesinger Berg hinauf quält, leitet Beer in eine Garage, die das Bierlaboratorium, Münchens zweitgrößte Privatbrauerei, beheimatet. Aus dem Hintergrund beobachtet Beer, wie die Löwen-Fans dicht gedrängt die Bügelflaschen öffnen und nach einem Toast auf den Verein einem kurzen Vortrag des Braumeisters lauschen. Für eine Handvoll jüngerer Anhänger willkommener Nachschub, stapeln sich die unterwegs geleerten Bierdosen doch bereits bis zum Anschlag in der mitgebrachten Baumwolltasche.

Manuelle Anzeigetafel bleibt

Der Aufstieg nach Obergiesing, das Laufen und die seltenen Sitzmöglichkeiten während Beers Erklärungen stehen den Teilnehmern ins Gesicht geschrieben, als endlich das Grünwalder Stadion erreicht wird. Die Gruppe betritt die Katakomben unterhalb der Haupttribüne.

Beer blickt fast ausnahmslos in glänzende Augen und freut sich: Hier wird der Mythos des Stadions für alle greifbar. Das Kopfkino jedes einzelnen springt jetzt an, als Beer seine Gefolgschaft in die Umkleidekabine oder den Presseraum schleift.

Über schwere Betonstufen und eine hölzerne Brücke hinweg finden sich die Teilnehmer oberhalb der Haupttribüne ein. Zwischen den Reporterhäuschen breitet sich der Panoramablick über die Anlage aus, hier oben stand garantiert noch keiner der Teilnehmer.

Die Holzkabinen für die Pressevertreter werden wie die in den 1950er Jahren in Betrieb genommene, manuelle Anzeigetafel noch zu den wenigen Relikten gehören, die bei der geplanten Neueröffnung im Sommer 2013 weiterhin zu bestaunen sein werden.

Abschlussparty in der Stadionwirtschaft

Das teilweise bis zu 80 Jahre alte Mauerwerk sowie die Betonbauten werden dagegen einer Komplettsanierung unterzogen. Das Geläuf, seit gut 50 Jahren dasselbe, wird erneuert und erhält eine Rasenheizung.

Diese und die Änderungen an Ost- und Westkurve, Haupttribüne, den WC-Anlagen und am Flutlicht lassen das Stadion zudem 50 Meter weiter westwärts wandern und eine Kapazität von 12.000 Zuschauern erreichen.

Vor den schlappen Zuhörern spricht Beer über jede haarkleine Veränderung, die das Grünwalder Stadion in den vergangenen Jahrzehnten über sich ergehen lassen musste. Doch das ungewohnte Baustellenbild und der Lärm der vorbeifahrenden Straßenbahnlinie 15 verschlucken Teile seines Vortrags über die Bombenangriffe, den Brand der Haupttribüne, die Orkanschäden.

Am Ende blickt Beer zufrieden über die Holzbänke der Haupttribüne und schlägt vor: "Die Stadionwirtschaft wird ja auch geschlossen. Wer also morgen Abend noch nichts vor hat, den lade ich herzlich zu Konzert und anschließender Party ein." Vom zeitgleich stattfindenden Champions-League-Finale redet er nicht.

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