"Wir leben St. Pauli"

Von Interview: Benny Semmler
Helmut Schulte ist seit 1. März 2008 beim FC St. Pauli als Geschäftsführer Sport angestellt
© Imago

Der FC St. Pauli ist eine der positiven Überraschungen der Zweiten Liga und wurde hinsichtlich der Integration deutscher Talente kürzlich von DFB-Sportdirektor Matthias Sammer als Vorbild gelobt.

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Trainer Holger Stanislawski und Geschäftsführer Helmut Schulte seien "Glücksfälle für den Klub", sagte Sammer dem "Hamburger Abendblatt". "Schulte hat bei Schalke schon im Jugendbereich erstklassige Arbeit geleistet und setzt dies jetzt beim FC St. Pauli fort", sagte der DFB-Sportdirektor dort.

Ein Kompliment, das Schulte als Bestätigung seiner Arbeit sehen dürfte. Der 52-jährige Geschäftsführer ist gerade dabei, St. Pauli von Grund auf zu renovieren. Mannschaft, Trainingsgelände, Stadion - beim Kiezklub hat man eine Vision und verfolgt diese mit Herzblut.

Schulte über das neue St. Pauli, den Intelligenzquotienten von Fußballern und die Tatsache, dass viele Vereine keine Ahnung von Leihgeschäften haben.

SPOX: Herr Schulte, ging es dem FC St. Pauli jemals besser?

Helmut Schulte: Ich kann nur die letzten 25 Jahre beurteilen. Und da muss ich sagen: St. Pauli war nie stabiler. Erstmals seit über 20 Jahren arbeitet der Verein wieder an seiner Substanz. Das sagt viel über die Entwicklung.

SPOX: Der Etat ist dabei mit knapp 20 Millionen Euro überschaubar. Das Stadion ist noch mindestens die nächsten vier Jahre eine Großbaustelle und das Trainingsgelände bietet bestenfalls Oberliga-Bedingungen. Das klingt weniger rosig.

Schulte: Der Klub St. Pauli lebt - und das mehr denn je. Das letzte Mal, dass Bauarbeiter in diesem Stadion zu sehen waren, war 1988. Damals haben wir provisorisch die Gegentribüne und das Flutlicht gebaut. Danach passierte hier gar nichts mehr. Uns geht es bestimmt nicht rosig, aber doch ziemlich gut. Und auch die Trainingsbedingungen werden wir demnächst wesentlich verbessern.

SPOX: St. Pauli macht sich bundesligahübsch?

Schulte: Wir haben gesagt: Nur Schritt für Schritt ist gesund. Das gilt für die Mannschaft, die mit viel Aufwand entwickelt wird. Das gilt für das Trainingsgelände, und wie jeder sehen kann, auch für das Stadion. Wir können mit Stolz sagen, dass wir seit 100 Jahren nie bessere Trainings- und Spielbedingungen für die Profis und Nachwuchsmannschaften hatten.

SPOX: Korrigieren Sie, wenn es nicht stimmt: Der DFB benotet regelmäßig die Jugendarbeit aller Profiklubs. Punkte wie Datenbankpflege der eigenen Spieler, Umsetzung der Vereinsphilosophie, Lizenzen der Trainer und Zustand des Trainingsgeländes werden dort beurteilt. Soweit richtig?

Schulte: Soweit ja.

SPOX: Stimmt es dann auch, dass St. Paulis Bedingungen als mangelhaft eingestuft wurden?

Schulte: Erstmal: In dieser Benotung gibt es kein mangelhaft. Wir haben nicht in jeder Kategorie die optimale Punktzahl erreicht, jedoch in einigen. Die Zertifizierung war ein Zustandsbericht, der die Lage 2007 beurteilte. Inzwischen ist in der Vereinsstruktur viel passiert. Wir haben mittlerweile sechs Leute im Verein, die die Fußballlehrerlizenz besitzen. Vorher gab es hier niemanden mit einer solchen Lizenz. Diese Leute verfügen alle über eine große Profi-Erfahrung - und waren gleichzeitig alle schon mal beim FC St. Pauli als Spieler oder Trainer tätig. Wir alle leben St. Pauli. Das ist einfach gut.

SPOX: Sie haben sich also nicht gewundert, dass DFB-Sportdirektor Matthias Sammer dem Verein kürzlich ein großes Lob aussprach?

Schulte: Matthias Sammer hat ja nur den Kurs der Lizenzspielermannschaft beschrieben. Ihm gefällt, dass wir auf junge, deutsche und gut ausgebildete Talente setzen und ihnen Spielpraxis auf hohem Niveau anbieten. Um Namen zu nennen: Rouwen Hennings, Max Kruse, Deniz Naki, Richard Sukuta-Pasu und Bastian Oczipka. Bei ihren vorigen Vereinen hatten sie kaum Einsatzmöglichkeiten. Bei uns ist das anders. Auch das ist unsere Philosophie. Wenn Matthias Sammer das wertschätzt, freuen wir uns.

SPOX: Ist das der Weg der Zukunft, dass große Vereine ihre jungen Spieler vermehrt bei kleineren Klubs parken, um sie später wieder zurückholen zu können? Momentan scheint das ziemlich schick.

Schulte: Wenn die großen Klubs schlau sind, dann machen sie es. Aber das Verständnis für Leihmodelle ist nicht bei allen Vereinen so stark ausgeprägt, wie beispielsweise bei Bayer Leverkusen. Bayer wickelt das sehr kompetent ab und hat ein großes Interesse an der Entwicklung der Spieler. Andere Vereine ticken nicht so.

SPOX: Warum ist Leverkusen die große Ausnahme?

Schulte: Viele Vereine verstehen das Ausbildungsgeschäft nicht. Denn es ist doch so: Wir geben dem Spieler X die Möglichkeit sich auf hohem Niveau und unter professionellen Bedingungen zu entwickeln. Da liegt es doch auf der Hand, dass wir bei späteren Transfers des Spielers eine gewisse Beteiligung durchaus begrüßen. Leverkusen macht das so. Sie nehmen neue Partner mit ins Boot. Das ist top.

SPOX: Jeder Klub hat eben seine Philosophie.

Schulte: Keine Frage. Aber wir zahlen doch nicht für unsere Leistung drauf. Wir machen den Spieler ja besser. Wir bieten ihm die Chance, sich im Profifußball zu etablieren. Wenn Vereine sich hinstellen und eine Leihgebühr verlangen, aber keine Kauf-Option anbieten, auf den Spieler jederzeit zugreifen und uns an einen späteren finanziellen Gewinn nicht beteiligen wollen - dann ist das in meinen Augen unprofessionell.

SPOX: Stimmt es, dass Leverkusens Sportdirektor Rudi Völler eine gewisse Einsatzzeit von seinen Leihspielern bei St. Pauli erwartet?

Schulte: Nein.

SPOX: Vereine sprechen bei der Verpflichtung von jungen Spielern auffällig und oft vom guten Charakter, den der Spieler mitbringen muss. Der DFB hat in seiner neuen Richtlinie die Persönlichkeitsbildung sogar besonders herausgestellt.

Schulte: Also: Einen koordinativen Umgang mit dem Ball setze ich für einen Profi im Grunde erstmal voraus, die entsprechende Physis ebenfalls. Doch der Mensch hinter dem Fußballer, die Persönlichkeitsbildung, die Motivstruktur - diese Bereiche wurden tatsächlich früher weniger beachtet. Heute wollen wir bereits vor der Verpflichtung wissen, ob sich der Spieler ins Team einbringen kann. Da hilft uns seriöses Scouting.

SPOX: Was meinen Sie mit 'seriösem Scouting'?

Schulte: Jeder aus unserem Team hat sein persönliches Netzwerk. Ich weiß beispielsweise, wem ich was glauben kann, und wem nicht. Und gemeinsam versuchen wir, so viele Informationen wie nur möglich von Spielern zu bekommen.

SPOX: Informationen?

Schulte: Da kommen wir auf die Persönlichkeitsbildung und Motivstruktur zurück. Wir telefonieren mit ehemaligen und aktuellen Trainern, beziehen das Umfeld des Spielers mit ein. Und wenn wir mit diesem Wissen noch immer das Gefühl haben, dass uns der Spieler interessiert, dann gibt es ein persönliches Gespräch mit mir und dem Trainer.

SPOX: Wann lehnen Sie einen richtig guten Fußballer ab?

Schulte: Wenn ein Spieler in den letzten fünf Jahren nur 60 Prozent aller Spieler absolviert hat. Da frage ich: Warum soll er jetzt ausgerechnet 100 Prozent aller Spiele bei uns machen? Es gibt wirklich einige Fußballer, die uns besser machen würden. Doch nicht gerade selten haben wir Zweifel an der Integration. Und da sind wir uns dann auch schnell einig: Finger weg von solchen Kickern!

SPOX: Wie wichtig ist Ihnen die Bildung der Spieler?

Schulte: Der Fußball hat sich verändert. Früher gab es nur die Situation Eins-gegen-Eins. Da brauchte man nicht so richtig pfiffig sein. Heute denken wir fast ausschließlich im Raum. Das bedeutet, dass der Spieler jederzeit seinen Raum abscannen, sich gleichzeitig auf Handlungen seiner Mit- und Gegenspieler einstellen muss. Das erfordert ein situativ richtiges Handeln - bestenfalls über 90 Minuten. Jeder Spieler trifft mit und ohne Ball einfach unglaublich viele Entscheidungen in sehr kurzer Zeit. Die Trainer erwarten automatisierte Laufwege - all diese Dinge finden im Kopf des Spielers statt. Da schadet es nicht, wenn dieser gut versorgt ist.

SPOX: Das Abitur als Vorraussetzung für die Bundesliga?

Schulte: Ich will niemandem zu nahe treten, aber die Anforderung an den Intellekt und an die Rechenkapazität des Spielers ist größer geworden. Wir haben viele Spieler mit Abitur - ohne dass ich das jetzt überbewerten will -, die sich nach dem Training in anderen Bereichen weiterbilden. Das ist hilfreich. Allerdings: Es gibt sicher auch Fußballer, die zu schlau sind...

SPOX: Bei aller Wertschätzung für Leverkusen. In punkto Jugendarbeit haben Sie kürzlich Schalke 04 als Vorbild angegeben.

Schulte: Der FC Schalke 04 gehört zu den Vereinen in Europa, der in den vergangenen fünf Jahren die meisten Jugendspieler in den bezahlten Fußball gebracht hat. Es gibt eine Schule auf dem Vereinsgelände. Es gibt Spieler wie Manuel Neuer, Christian Pander, Tim Hoogland - gehen Sie einfach den jetzigen Kader mal durch, da haben wirklich viele Spieler Fußball auf Schalke gelernt. Die Jugendausbildung auf Schalke ist einfach geil. Die Jungs lernen ohne Erfolgsdruck, dafür mit einem gewissen Entwicklungsdruck. Ansonsten überzeugt mich nur noch Werder Bremen.

Exklusiv: Holger Stanislawski erklärt die Trainerausbildung des DFB