Lieben, leiden, leben

Von Interview: Stefan Rommel
Holger Stanislawski, FC St. Pauli
© Getty

München - In Deutschland sind Sommerferien, die meisten Schulen sind leer. Aber nicht alle. Denn Holger Stanislawski drückt derzeit die Schulbank und macht seinen Trainerschein.

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Im Interview mit SPOX.com spricht der 38-jährige Chefcoach des FC St. Pauli über seine Zeit als Praktikant im eigenen Verein, die anstehende Zweitligasaison und den schmalen Grat zwischen dem Kultverein und dem neuen Pauli.

SPOX: Herr Stanislawski, Sie wieder schön als Praktikant angestellt, beim eigenen Verein...?

Holger Stanislawski: Naja, das ist ja nur pro forma. Im Rahmen der neuen Trainerausbildung gehört auch ein elfwöchiges Praktikum dazu. Dabei sollen wir einen Verein, in meinem glücklichen Fall den FC St. Pauli, ganzheitlich analysieren und auf verschiedenen Ebenen kennenlernen. Geschäftsstelle, Presse, Nachwuchsleistungszentrum, eigenes Funktionsteam und so weiter. Das Ganze ist sehr, sehr intensiv.

SPOX: Lässt sich der Stress der Trainerausbildung mit dem der laufenden Saisonvorbereitung überhaupt vereinbaren?

Stanislawski: Sehr schwer. Im Moment geht das einigermaßen, weil wir keine Pflichtspiele haben. Aber wenn's dann zur Sache geht, wird es schon heftig. Wir haben von den ersten vier Spielen drei am Freitagabend, der Kurs geht immer bis Donnerstagabend. Das wird dann schwieriger.

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SPOX: Takyi weg, Braun weg, Kuru weg, Meggle schwer verletzt. Dafür Hain da, Gouiffe a Goufan da, Weigelt da, Hennings da, Ebbers da. Haben Sie sich ergänzt oder verstärkt?

Stanislawski: Takyi hätten wir gerne behalten, sein Abgang tut sportlich am meisten weh. Aber wir haben uns ganz klar verstärkt. Wir haben fünf Leute dazubekommen, die uns bei Normalform besser machen. Das heißt aber nicht, dass sie auch von Beginn an spielen werden. Sie müssen sich erstmal beweisen gegenüber denen, die schon da sind.

SPOX: War Mittelfeldspieler Daniel Brückner von Rot-Weiß Erfurt ein Thema? Als Hamburger Jung hätte er sicher gut gepasst...

Stanislwaski: Wir waren früher mal an ihm dran, aber diesmal sind wir auf der linken Mittelfeldseite mit Bruns und Trojan sehr gut besetzt, dazu noch der junge Sismanoglu - das wären zu viele Optionen für eine Position gewesen. Sonst sind wir ja nicht so auf Rosen gebettet und schustern uns eher was zusammen.

SPOX: Gibt's was Neues bei Rene Schnitzler? Er will anscheinend weg, hat schon bei Cottbus ein Probetraining absolviert.

Stanislawski: Nein. Sein Berater hat weiter Augen und Ohren offen. Solange sich nichts tut, trainiert er ganz normal bei uns mit. Das Ganze aber ein bisschen auf Bewährung. Er hat einen Arbeitsvertrag und ich bin nicht der Trainer, der sagt: 'So, du trainierst jetzt da hinten auf dem Platz alleine und ich stell Dir jemanden dafür ab.' Aber er muss uns zeigen, dass er anfängt, auf dem richtigen Weg zu sein. Er kann immer noch wechseln, aber er kann uns auch zeigen, dass er dazugelernt hat und bei uns bleiben will.

SPOX: Das hört sich sehr verhalten an. Gibt es Probleme mit ihm?

Stanislawski: Ich mag ihn menschlich. Er ist ein witziger Typ, der immer mal einen Spruch raus haut. Aber entscheidend ist seine Einstellung um diesen Job herum. Es ist nicht damit getan, ein bisschen zu trainieren. Seine professionelle Einstellung muss wachsen und besser werden. Es gäbe eine Menge Dinge, an denen man das dokumentieren könnte. Das werde ich öffentlich aber nicht machen. Er muss jetzt sehen: Worauf kommt es an? Was muss ich tun, damit ich meine Leistung und die der Mannschaft besser machen kann? Da muss er deutlich an sich arbeiten.

SPOX: Eine komische Fußballerweisheit besagt, dass das zweite Jahr für einen Aufsteiger immer das schwerste sein soll. Haben Sie schon Angst?

Stanislawski: Diese Weisheiten immer... Da muss man kucken, wie die greifen. Der Anspruch der Mannschaft und auch meiner ist, dass wir nicht schlechter abschneiden als letzte Saison. Da waren wir Neunter. Wir wollen uns stetig verbessern. Insofern halte ich es da wie mein Kollege Klinsmann: 'Wir wollen jeden Einzelnen besser machen und damit auch die Mannschaft.'

SPOX: Von der "härtesten 2. Liga aller Zeiten" zur...

Stanislawski: ...zu einer ausgeglichenen 2. Liga. Du hast ein, zwei Mannschaften, die direkt um den Aufstieg mitspielen. In meinen Augen sind das Nürnberg und Freiburg. Dann noch sechs, sieben, die auf Augenhöhe sind. Rostock, Duisburg, Aachen, diese Liga. Und natürlich wie immer der Außenseiter, den keiner auf dem Zettel hat. Wie Hoffenheim, wobei ich die vor der Saison als Aufsteiger getippt hatte.

SPOX: Danke für die Überleitung: Hoffenheim, Wehen und Ingolstadt kamen und kommen mit hohen Etats in die 2. Liga. Wie geht man als finanzieller Normalo mit diesem Wettbewerbsvorteil um?

Stanislawski: Wir müssen unser finanzielles Defizit gegenüber anderen Vereinen dadurch ausgleichen, dass wir, die Aktiven, jeden Tag einen Tacken besser arbeiten. Jeder gibt fünf Prozent mehr und dann kann man das vielleicht auffangen. Aber man kann ja auch nicht wie wild durch die Gegend verpflichten, das bringt am Ende auch nur Probleme. Wir machen jetzt noch Basisarbeit, aber St. Pauli wird auch irgendwann andere finanzielle Möglichkeiten haben. Es ist ein stetiger Lern- und Anpassungsprozess.

SPOX: Klinsmann-Credo hin oder her - was passiert, wenn es ganz übel läuft und St. Pauli absteigt? Fängt einen die neue 3. Liga dann finanziell besser ab als die Todesliga Regionalliga?

Stanislawski: Ganz klar. Wir könnten auch einen Abstieg kompensieren und auffangen. Da gäbe es keine Probleme.

SPOX: Der FC St. Pauli ohne stetes Auf und Ab wäre aber nicht der FC St. Pauli.

Stanislawski: Ich sehe uns als Zweitligist, der auch immer mal die Möglichkeit hat, aufzusteigen. Wir hatten den grausamen Absturz, jetzt konsolidieren wir uns in der 2. Liga. Aber man muss auf alles vorbereitet sein. Wenn man weiß, was einen erwartet, kann man sich drauf einstellen. Wir gehören als Verein in die 2. Liga, aber wir kennen auch den worst case und den spielen wir gedanklich auch durch.

SPOX: Angenommen, Sie müssten einem völlig Ahnungslosen den FC St. Pauli erklären. Wie würden Sie den Verein in fünf Schlagworten vorstellen?

Stanislawski: Den Klub muss man erleben, den Klub muss man fühlen, und man muss ihn spüren. Man muss live dabei sein, einen Abend in Hamburg verbringen, diesen Stadtteil aufsaugen. Das Vorher, das Nachher, das "Während-des-Spiels". Man muss lieben und leiden mit diesem Verein. Das ist St. Pauli.

SPOX: Gibt es mit allen neuen Spielern immer noch die Tour durch das Viertel?

Stanislawski: Ja. Und zwar nicht nur über die Reeperbahn. Sondern auch durch einen der ärmsten Stadtteile in Hamburg. Wir schauen, wie wir uns als Verein da mit einbinden in soziale Projekte und Fan-Projekte.

Der aktuelle Kader des FC St. Pauli im Überblick 

SPOX: Wie bekommt der Verein immer noch den Spagat hin zwischen Nostalgie und Purismus auf der einen und Kommerz und Marketingstrategien auf der anderen Seite?

Stanislawski: Man muss sich anpassen. Um diesen Prozess kommt auch der FC St. Pauli nicht herum. Dann heißt es schon mal: 'Och schade, Mensch. Das alte Millerntor.' Aber im alten Stadion haben wir draufgezahlt - im neuen verdienen wir Geld. Wir wollen uns den Gegebenheiten anpassen, ohne unseren Charme zu verlieren. Das ist immer ein schmaler Grat zwischen Kommerz und Kult und Tradition. Und dass damit nicht immer jeder einverstanden ist, ist auch klar.

SPOX: Ist St. Pauli immer noch diese eine, große, heimelige Idee?

Stanislawski: St. Pauli ist ein besonderer Verein in Deutschland, und das wird er auch immer bleiben. Das liegt an unserem Status als Stadtteilklub. Daran, dass wir noch einen anderen großen Verein in der Stadt haben. Daran, dass wir in einem armen Stadtteil beheimatet sind. Daran, dass wir ganz außergewöhnliche Fans haben.

SPOX: Wie weit ist der Klub überhaupt noch abhängig von seinen Fans?

Stanislawski: Ich finde gut, was Hoffenheim macht. Aber die sind auf die Einnahmen von ihren 6000 Zuschauern nicht angewiesen. Wir auf die von unseren 20.000 Zuschauern schon. Das ist unheimlich wichtig für uns und das darf sich nie ändern. Wenn man in die Bundesliga aufsteigt, behält man den harten Kern von 15.000 oder 17.000 Zuschauern. Der Rest sind aber Mode-Fans. Die sind dann später wieder weg. Schon wieder so ein schmaler Grat...

SPOX: Wie viel FC St. Pauli steckt in Holger Stanislawski?

Stanislawski: Ich bin mehr als ein Drittel meines Lebens in diesem Verein tätig, in allen erdenklichen Funktionen. Mein Weg wird mich irgendwann woanders hinführen. Entweder, weil der Verein mich nicht mehr möchte oder weil ich mich verändern möchte. Aber der Klub wird immer einen Teil in meinem Herzen einnehmen, er ist dort fest verankert. Das kann man nicht mehr raus schneiden. St. Pauli war und ist eine Lebenserfahrung.

SPOX: Sie sind also nicht nur Angestellter, Geldempfänger, Arbeitskraft.

Stanislawski: Man hat viel bekommen und viel gegeben. Diese Symbiose hat gefruchtet. Ich werde den Verein irgendwann erhobenen Hauptes verlassen können. Und kann dann auch wieder ruhigen Gewissens auf der Tribüne sitzen.

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