WM

Tops und Flops der WM 2018 in Russland: Standards, Dramen und Weißwein-Orgien

Von Stefan Petri/Lennart Gens
Frankreich jubelt, Neymar am Boden: Die Tops und Flops der WM.
© getty
Cookie-Einstellungen

Flop: Ballbesitz-Fußball

Von Frankreich lernen, heißt siegen lernen. Defensive ist Trumpf, vorn geht schon einer rein, durch Standards, Eigentore oder Murmeln in der Nachspielzeit. Ob das den Fußball wirklich attraktiver macht, muss jeder für sich entscheiden. Aber Fakt ist: Ballbesitz-Fußball ist sowas von out. Die letzten beiden Weltmeister Spanien und Deutschland, die sich dieser Philosophie verschrieben haben, schieden sang-und klanglos aus. Das DFB-Team hatte keinen Plan B und war ausrechenbar, Spanien tiki-tackerte gegen Russland über 1.000 Pässe aneinander und machte dennoch kein Tor. Neue Lösungen müssen her - mal sehen, ob jetzt alle der Equipe Tricolore nacheifern.

Top: Ehrliche Spielerinterviews

Von nichtssagenden, glattgebürsteten 08/15-Spielerinterviews haben wir doch alle die Nase voll, sind wir mal ehrlich. Sie haben aber ihren Grund: Wer ehrlich seine Meinung sagt, muss mit einer Menge Gegenwind rechnen, in Einzelfällen bis hin zum Shitstorm. Respekt deshalb an die Belgier, die mit ihrer Meinung nach dem Spiel gegen Frankreich nicht hinter dem Berg hielten: Eine "Schande" sei das gewesen, lieber hätte man gegen spielende Brasilianer als gegen mauernde Franzosen verloren, und so weiter. Natürlich gab für dieses Rumgepampe eine verbale Retourkutsche, und wer gewinnt, der hat am Ende alles richtig gemacht. Trotzdem: Wir plädieren für mehr Ehrlichkeit - so macht es doch mehr Spaß.

Flop: Abgeriegelte Nationalmannschaften

Vielleicht führt kein Weg daran vorbei, dass WM-Quartiere zum Hochsicherheitstrakt verkommen. Aber für die Fans, die sich in tausende Euro Unkosten stürzen, ist es doch mehr als unbefriedigend, wenn die Stars derart hermetisch abgeriegelt werden. Übrigens nicht nur vor den Fans abgeschirmt, sondern auch vor der Presse. Ein ganzes öffentliches Training gab es pro Team im Turnier, danach durfte man jeweils die ersten 15 Minuten zuschauen. Heißt: beim Aufwärmen. Das bringt natürlich null Erkenntnisse über Spielweise und Form des Teams. Also bitte wieder ein bisschen mehr Nähe, liebe FIFA. Wir beißen auch nicht, versprochen.

Top: England kann Elfmeterschießen

England vom Punkt. Treffsicher. Hast du da noch Töne? Weil Gareth Southgate die verhassten Penalties im Vorfeld analysierte und sie so akribisch vorbereitete, als ginge es um eine Mondlandung, haben die Three Lions doch tatsächlich wieder ein Elfmeterschießen gewonnen. Das Ende vom Lied: England kam ins Halbfinale, auf der Insel sind sie wieder stolz auf ihr Team, und Konstanten gibt es nicht mehr im Weltfußball (siehe Spruch, Gary Linekers). Übrigens war das Ende vom Lied auch direkt wieder der Anfang - "It's coming home" lief nämlich in Dauerschleife.

Flop: Ein-Mann-Teams

Portugal mit Cristiano Ronaldo. Argentinien mit Lionel Messi. Polen mit Robert Lewandowski. Teams, die komplett auf einen einzigen Superstar zugeschnitten waren, machten bei dieser WM kaum einen Stich. Dafür waren sie zu ausrechenbar. Natürlich hatten auch andere Mannschaften ihre Topspieler, aber die glänzten vor allem dann, wenn sie sich für das Team zurücknahmen. Edinson Cavani und Luis Suarez etwa harmonierten für Uruguay prächtig, auch die belgischen Ausnahmekönner fügten sich nahtlos ins Team ein.

Top: Rossija

Wir haben es schon oft erlebt, dass die Rolle des Gastgebers in einem großen Turnier Flügel verleiht. Das war auch bei den Russen so. Die lieferten in der Gruppenphase zwei Torfestivals ab, kamen dann ins Achtelfinale und rangen mit einem unglaublichen Einsatz die favorisierten Spanier nieder. Auch gegen Kroatien hätte es fast gereicht. Nun sind russische Topleistungen nach den Skandalen der letzten Jahre immer ein bisschen verdächtig. Auf jeden Fall kann man aber konstatieren, dass sich die Spieler für ihr Land förmlich aufgeopfert haben. Und das eine oder andere Traumtor war auch noch dabei.

Flop: David de Gea

Wir wollen eigentlich nicht über Gebühr auf einzelnen Spielern herumhacken - sonst würden wir beim DFB anfangen und wären morgen noch nicht fertig. Aber wer ein derart bitteres Turnier erlebt wie der spanische Keeper, der muss noch einmal erwähnt werden. Und sei es, um ihm Mut zuzusprechen. Da reiste de Gea als der vielleicht beste Keeper der Welt an und hatte dann die berühmte Scheiße am Fuß, beziehungsweise am Handschuh. In vier Spielen wehrte der Schlussmann gerade einmal einen einzigen Ball ab (schlechteste Bilanz eines Keepers seit 1966), leistete sich gegen Ronaldo einen kapitalen Torwartfehler - und haderte dann mit den russischen Elfmetern: So oft war er nah dran, halten konnte er keinen. Ein Turnier zum Vergessen.

Top: Iran

Vier Punkte und noch mehr Highlights: Angefangen mit ihrem herrlich chaotischen Spielstil über Keeper Alireza Beiranvand, der vor wenigen Jahren noch obdachlos war und jetzt einen Elfmeter von CR7 pariert hat, bis hin zu der Tatsache, dass iranische Frauen sich in der Heimat zum ersten Mal seit der Islamischen Revolution 1979 ein Spiel im Stadion anschauen durften. Auch in Russland waren abertausende Fans aus dem Iran unterwegs, viele davon Frauen. Manchmal ändert der Fußball eben doch ein klein bisschen was zum Guten.

Und, last but not least: Milan Mohammadis Einwurf gegen Spanien. Weltklasse.

Inhalt:
Artikel und Videos zum Thema