WM

Als Kämpfer geboren

Von Adrian Bohrdt
Ricardo Rodriguez ist aus der Nationalmannschaft der Schweiz nicht wegzudenken
© getty

Ricardo Rodriguez kann auf eine bewegte Kindheit zurückblicken, die er nur dank sorgfältiger Ärzte und seines Kämpferherzens überlebte. Der 21-Jährige legt bei seiner ersten WM eine bemerkenswerte Reife an den Tag und treibt seinen Marktwert in die Höhe.

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Es war das WM-Auftaktspiel der Schweiz gegen Ecuador, die 91. Minute lief. Nach einem Vorstoß war Ricardo Rodriguez noch nicht wieder zurückgeeilt, plötzlich erhielt sein Gegenspieler Antonio Valencia den Ball und hatte die Chance, beim Stand von 1:1 den Siegtreffer einzuleiten. "Scheiße, dachte ich da", gab der Schweizer Linksverteidiger nach dem Spiel zu: "Und: Hoffentlich passiert nichts."

Doch der Wolfsburger war im Glück. Valon Behrami eroberte den Ball nach Valencias Flanke im Strafraum zurück und schaltete schnell um. "Nun war es gar ein Vorteil, dass ich noch vorne war", so Rodriguez weiter. Der Außenverteidiger startete auf links sofort wieder durch, bediente Haris Seferovic im Zentrum mustergültig und der Joker netzte zum 2:1-Siegtreffer ein.

Lebensgefahr nach der Geburt

Man könnte die Aneinanderreihung der glücklichen Umstände als das Glück des Tüchtigen bezeichnen, immerhin hatte er den Mut, sich als Außenverteidiger zuvor in der 91. Minute noch offensiv einzuschalten. Rodriguez hatte auch zuvor bei seinem WM-Debüt eine erstaunlich gelassene Partie abgeliefert und sollte im folgenden 2:5-Debakel gegen Frankreich einer der wenigen Schweizer sein, der nicht so schnell die weiße Fahne hisste.

Aufgeben war ohnehin noch nie die Sache des 21-Jährigen, dessen chilenische Mutter seinen spanischen Vater einst in der Schweiz kennen gelernt hatte. Rodriguez kam mit einer Zwerchfellhernie auf die Welt und Mutter Marcela erinnerte sich im "Blick": "Als ich im achten Monat schwanger war, stellte man Ricardos Krankheit fest. Hätten die Ärzte es damals nicht gesehen, wäre Rici bei der Geburt gestorben."

Direkt nach der Geburt musste er deshalb operiert werden, da sich seine Bauchorgane wie der Magen, die Milz, die Leber und der Darm durch eine Lücke im Zwerchfell in den Brustkorb verlagert hatten. "Man hat mir gesagt, dass er es packen wird, falls er die erste Nacht übersteht. Wir hatten richtige Angst", blickte Mutter Marcela zurück.

"Mein Enkel ist stark genug"

Doch Großvater Nelson, der zeitlebens eine enge Bezugsperson für den heutigen Profi war und 2010 verstarb, schätzte seinen Enkelsohn früh richtig ein. Mit den Worten "Mein Enkel ist stark genug. Er wird es mit Sicherheit überleben" warf er einen vom Krankenhaus für den Fall des Todes geschickten Seelsorger aus dem Zimmer.

Die OP ging gut, der kleine Ricardo lebte. Doch damit war die Krankheit nicht abgehakt: Alle sechs Monate musste er während seiner ersten drei Lebensjahre zur Kontrolle ins Krankenhaus. Heute hat Rodriguez nur noch eine sichtbare Erinnerung an die schweren Jahre: Das Madonna-Tattoo auf seinem Oberarm hatte er sich mit 18 Jahren stechen lassen, sein Onkel hatte ihm damals ein Madonna-Bild ins Krankenhaus-Bett gelegt.

Heute ist Rodriguez kerngesund und will anderen Mut machen: "Ich hoffe, dass ich ein Vorbild für andere sein kann, die mit einer solchen Krankheit auf die Welt kommen."

Allen Widerständen zum Trotz

Unbeeindruckt von seiner Krankheit gab es für Rodriguez früh nur den Fußball. "Ich war nie gut in der Schule. Ich hätte es schwer gehabt, einen Job zu finden", gab er gegenüber der "Aargauer Zeitung" zu. Mit seinem Vater und seinen beiden Brüdern, die es ebenfalls in den Profifußball geschafft hatten, wurde immer gekickt, schnell wurde er beim FC Schwamendingen im entsprechenden Züricher Stadtteil, in dem die Familie lebte, angemeldet.

Dass er den Weg zum Profi geschafft hat, ist aber bis heute ein Zeugnis seines großen Kämpferherzens. "Auch die Ärzte hätten nie gedacht, dass er Spitzensportler wird", so Marcela: "Er war schon als kleines Kind ein Kämpfer." In Schwamendingen, wo er in Anlehnung an den großen portugiesischen Linksfuß "Futre" genannt wurde, blieb der talentierte und einsatzfreudige Youngster daher auch nicht lange.

Bereits mit zwölf Jahren wechselte er zum FC Zürich, wo seine angeborene Erkrankung nach wie vor ein Thema war, wie sich der damalige Sportchef Fredy Bickel erinnert: "Schule, Fußball und sein körperlicher Zustand mit diversen Arztbesuchen waren schwierig unter einen Hut zu bringen. Alle mussten Zugeständnisse machen. Ricardo hat es uns zurückgegeben, schon lange bevor er sich ins Rampenlicht spielte."

"Robben hasst ab jetzt Pferdeschwänze"

Rodriguez, dessen Markenzeichen seit jeher der Zopf ist, ließ sich nie aufhalten und ging ruhig aber bestimmt seinen Weg. Als 18-Jähriger verdrängte er in Zürich Ex-Nationalspieler Ludovic Magnin und im Verlauf der Qualifikation für die EM 2012 schnappte er sich in der Nati den Platz von Reto Ziegler.

Der Stern des Defensivmannes, der mit der Schweiz zudem die U-17-WM in Nigeria gewann, ging international spätestens 2011 auf. In der Champions-League-Qualifikation verlor Zürich zwar mit 0:1 und 0:2 gegen den FC Bayern München, Arjen Robben tat sich gegen den Youngster aber außerordentlich schwer. "Robben hasst ab jetzt Pferdeschwänze", schrieb die "Süddeutsche Zeitung" damals.

Rodriguez überzeugte neben seiner angesichts seines Alters erstaunlichen Gelassenheit auf dem Platz mit hoher Spielintelligenz, einem guten Zweikampfverhalten und seiner Persönlichkeit. "Für mich hat Verantwortung übernehmen nichts mit dem Alter zu tun. Ich wusste immer, was ich kann", stellte er gegenüber der "Schweizer Illustrierten" klar.

Darüber hinaus ist er ein absolut zuverlässiger Vollblutprofi: "Schweizerisch an mir ist meine Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Wenn wir eine Stunde vor einem Training da sein müssen, bin ich eineinhalb Stunden vorher da."

Magath schlägt schnell zu

Spätestens mit den guten Auftritten gegen Bayern war das Interesse auch im Ausland geweckt, und so schlug Felix Magath im Januar 2012, wenige Monate nach Rodriguez' Duellen mit Robben, zu und holte den Schweizer für 8,5 Millionen Euro nach Wolfsburg. Rodriguez spielte sich schnell fest. Nur als Magath weg war, verlor er unter Interimstrainer Lorenz-Günther Köstner kurzzeitig seinen Stammplatz an Marcel Schäfer.

"Ich habe es schon im ersten Training gemerkt. Dem einen ist man halt lieber als dem anderen. Es war eine Scheißsituation, aber ich habe daraus gelernt", betont er heute: "Ich weiß jetzt, wie das ist, wenn jemand nicht spielt. Man ist ein Team, man kämpft zusammen und arbeitet zusammen." Nach wenigen Wochen übernahm Dieter Hecking und Rodriguez war wieder gesetzt.

In der vergangenen Saison knüpfte er dann an seine starken Leistungen an. Rodriguez bestritt als einziger Bundesliga-Feldspieler mit Daniel Baier alle Ligaspiele über die vollen 90 Minuten, führte dabei 851 Zweikämpfe (ligaweit die neuntmeisten) und gewann davon 61,9 Prozent - der drittbeste Wert aller Außenverteidiger.

Was zählt ist auf dem Platz

Fast folgerichtig klopften bereits größere Klubs an. Real Madrid, der FC Chelsea und Paris St. Germain wurden unter anderem mit ihm in Verbindung gebracht. Dennoch ist er nicht abgehoben und noch immer kein Freund von Interviews. Während sich die Schweizer WM-Berichterstattung auf Xherdan Shaqiri, Josip Drmic oder Gökhan Inler konzentriert, fühlt sich Rodriguez im Hintergrund wohl und lässt Leistungen auf dem Platz sprechen.

Doch sollte man seine Zurückhaltung in der Öffentlichkeit nicht mit Schüchternheit verwechseln: Auf die Frage, welches Team bei der WM die besten Außenverteidiger habe, antwortete der Defensivmann wie aus der Pistole geschossen: "Die Schweiz."

Nach dem Duell damals gegen Robben hatte er bereits klargestellt: "Ich spiele gerne gegen große Fußballer. Da weiß ich, wo ich stehe." Für die Schweiz geht es als nächstes im Achtelfinale gegen Argentinien und die Star-Offensive um Lionel Messi und Angel di Maria. Für Rodriguez eine weitere Standortbestimmung. Und vielleicht schlägt das Glück des Tüchtigen noch einmal zu.

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