WM

Im Schatten der Diktatur

Von Adrian Bohrdt
Argentinien holte sich 1978 gegen die Niederlande seinen ersten WM-Titel
© getty

Bevor Argentinien und die Niederlande am Mittwochabend (22 Uhr im LIVE-TICKER) im WM-Halbfinale aufeinandertreffen, blickt SPOX auf ein vergangenes Duell beider Nationen zurück. Bei der Heim-WM 1978 holte sich die Albiceleste im Endspiel gegen die Elftal den Titel. Doch das Turnier wurde von der brutalen Militärdiktatur unter Jorge Videla überschattet und viele bezweifeln heute den sportlichen Wert des Titels. Trotz all des militärischen Drucks im Hintergrund wäre es im Endspiel beinahe zur vermeintlichen Katastrophe gekommen.

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Es läuft die 105. Spielminute im Estadio Monumental. Die 71.483 Zuschauer halten den Atem an, die Spannung ist greifbar. Plötzlich bekommt Mario Kempes kurz vor dem Strafraum den Ball zugespielt, dribbelt sich an zwei Abwehrspielern vorbei und überwindet Jan Jongbloed im Tor der Elftal. Das Stadion explodiert förmlich - Argentinien führt mit 2:1 und ist eine gute Viertelstunde später zum ersten Mal Weltmeister.

Doch was im einzigen WM-Finale zwischen dem zweiten Weltkrieg und 2006 ohne deutsche oder brasilianische Beteiligung stattfand, ist mit den Jahren immer weiter in den Hintergrund gerückt. Längst gilt die WM 1978 in Argentinien als eine der größten Schande der Fußball-Geschichte, auch wenn bis heute viele Argentinier zumindest die eigene Mannschaft in Schutz nehmen.

Eine WM zu Propagandazwecken

Berichtet man aber vom WM-Endspiel in Buenos Aires, verbietet es sich, die Vorgeschichte außer Acht zu lassen. Argentinien war damals seit zwei Jahren fest in der Hand der Militärjunta, angeführt von Diktator Jorge Videla. Es war ein offenes Geheimnis, dass Regimegegner gefoltert und ermordet wurden, mindestens 30.000 Oppositionelle fielen der Militärdiktatur zum Opfer.

Daher wollte Videla die Gelegenheit nutzen, um sein Land nach außen positiv zu verkaufen und das ramponierte Image in der Weltöffentlichkeit aufzupolieren. Trotz breiter Boykott-Aufrufe, inklusive des berühmten argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges ("Die WM ist eine nationale Katastrophe") nahmen letztlich alle Teams an der WM teil und zeigten sich weitestgehend ignorant gegenüber den Zuständen im Land.

Als Gruppenzweiter zog Argentinien im Turnier in die Zwischenrunde ein, da es damals kein K.o.-System gab, waren die beiden Gruppensieger der Zwischenrunde im Endspiel. Mit vier Punkten gingen Brasilien und Argentinien jeweils in den letzten Spieltag, wobei die Brasilianer das bessere Torverhältnis hatten. Was folgte, darf getrost als einer der größten WM-Skandale aller Zeiten gesehen werden.

Die Schande gegen Peru

Zunächst wurde kurzfristig Brasiliens letztes Gruppenspiel gegen Polen vor Argentiniens letzter Partie gegen Peru angesetzt, so dass die Albiceleste wusste, wie viele Tore sie braucht, um Brasilien noch zu überholen. Nach dem 3:1-Sieg des Erzrivalen war klar: Argentinien muss mit mindestens vier Toren Differenz gewinnen.

Gegen die bis dato defensivstarken Peruaner gelang schließlich ein 6:0 mit fünf Toren innerhalb von 50 Minuten. Peru leistete quasi keine Gegenwehr und ließ die Argentinier immer wieder frei aufs eigene Tor laufen. Die Manipulationsvorwürfe häuften sich anschließend: Peruanische Spieler klagten, während dem Spiel "seltsame Dinge" gesehen zu haben, drei Spieler sollen mit je 20.000 Dollar bestochen worden sein.

Darüber hinaus lieferte Argentinien 15 Tage nach der WM 35.000 Tonnen Getreide nach Peru und erließ dem Land Schulden in Höhe von 50 Millionen Dollar. Doch damit nicht genug: Die argentinische Junta soll außerdem im Gegenzug versprochen haben, peruanische politische Gefangene verschwinden zu lassen, darunter den späteren Senator Genaro Ledesma Izquieta.

Jahre später berichtete Izquieta, dass er nach dem 6:0-Sieg nach Argentinien ausgeliefert wurde, wo er, wie unter Videla nicht unüblich, gemeinsam mit zwölf weiteren Gefangenen in den Norden des Landes verschleppt wurde und dort unter Drogeneinfluss aus einem Flugzeug ins Meer geworfen werden sollte. Nur weil er just in diesen Tagen in die peruanische Nationalversammlung gewählt wurde, musste die Militärjunta ihr Vorhaben abbrechen und Izquieta durfte mit seinen Mitgefangenen zurück nach Peru.

Psychotricks der Gauchos

Sportlich waren die Argentinier aber fürs Finale qualifiziert, und auch hier ließ das Regime nichts unversucht, um den Gegner aus dem Konzept zu bringen: Der Mannschaftsbus der Holländer wurde auf dem Weg ins Stadion absichtlich durch die Problemviertel von Buenos Aires umgeleitet, wo er mit Steinen beworfen und die Spieler aufs heftigste beschimpft wurden. Mit über einer Stunde Verspätung erreichte das Team schließlich das Stadion.

Minuten vor Anpfiff protestierte dann der argentinische Mannschaftskapitän Daniel Passarella gegen den eingegipsten Arm von Hollands Stürmer Rene van de Kerkhof und forderte, dass er diesen mit weichem Stoff umwickeln müsse. Obwohl van de Kerkhof zuvor alle Spiele mit Gips gespielt hatte, musste er schließlich zusätzliche Stoffschichten über seinen Arm packen. Mit über einer halben Stunde Verspätung startete das Finale.

Cruyff wegen Drohung nicht dabei

Das Spiel war geprägt von einer extrem hitzigen Atmosphäre, auf dem Platz genau wie auf den Rängen. Von Beginn an boten beide Teams ein ruppiges und giftiges Spiel, in dem die Argentinier kurz vor der Pause erstmals in Führung gingen: Kempes bekam einen Ball an der Strafraumgrenze, zog in den Sechzehner und im Fallen schob El Matador den Ball unter Jongbloed zum 1:0 ins Tor.

Doch Holland gab nicht auf, obwohl das Team ohne seinen großer Star Johann Cruyff auskommen musste. Cruyff hatte nach gelungener Qualifikation überraschenderweise bekannt gegeben, aus "politischen Gründen" nicht an der WM teilzunehmen. 2008 schließlich enthüllte er die wahren Ursachen. In einem Interview mit "Catalunya Radio" berichtete Cruyff, wie er wenige Monate vor der WM in seiner Wohnung bedroht worden war.

"Man hielt mir ein Gewehr an den Kopf, meine Frau war gefesselt und unsere Kinder mussten all das mit erleben. In solchen Momenten zählen andere Werte im Leben", so der einstige Superstar. Anschließend sei seine Wohnung sowie seine Kinder monatelang unter Polizeischutz gestellt worden, an die WM war für ihn nicht mehr zu denken.

Argentinien kurz vor der Katastrophe

Auch ohne Cruyff kämpfte sich Holland zurück ins Spiel und wurde zunächst belohnt. Nach missglückter Abseitsfalle der Argentinier konnte ausgerechnet van de Kerkhof von rechts frei flanken, der eingewechselte Dick Nanninga wuchtete den Ball acht Minuten vor Schluss aus sieben Metern per Kopf unter die Latte - 1:1.

Plötzlich war alles wieder offen und die Niederlande hatte sogar die große Chance auf den Siegtreffer. Sekunden vor Ende der regulären Spielzeit traf Rob Rensenbrink aus spitzem Winkel den Pfosten - wer weiß schon, was passiert wäre, hätten die Argentinier "ihr" Finale verloren.

Doch es sollte nicht dazu kommen. Obwohl die Argentinier nach der regulären Spielzeit komplett platt gewirkt hatten, kamen sie zur Verlängerung wie neu geboren aus der Kabine. Dopingvorwürfe machten schnell die Runde, es wurde spekuliert, dass Argentiniens Spieler schon während des kompletten Turniers Urinproben der eigenen Betreuer bei den Dopingtests abgegeben hätten.

Klare Sache in der Verlängerung

Von den Holländern kam dagegen in der Verlängerung nicht mehr viel. Kempes' Treffer zum 2:1 war die Vorentscheidung, vier Minuten vor Schluss stellte Daniel Bertoni nach Pass des doppelten Torschützen den Endstand her. Von den Niederländern kam zu diesem Zeitpunkt schon quasi keine Gegenwehr mehr.

Damit brachen alle Dämme. Unter der Diktatur war es eigentlich verboten, sich auf der Straße aufzuhalten, doch während der WM feierte und tanzte das ganze Land in den Straßen - es war eine schizophrene Situation, zwischen Angst vor der Junta und dem Gefühl, endlich als Nation etwas Positives erreicht zu haben. Durch den Sieg nahmen letztlich Begeisterung und das Gefühl nationalistischer Einheit den Platz ein, an dessen Stelle im Fall einer Niederlage, so fürchtete Videla, eine Revolte hätte treten können.

Trainer Menotti mit eindrucksvoller Geste

Darüber hinaus distanzierte sich zumindest die Mannschaft vom Regime. Trainer Cesar Luis Menotti verweigerte Videla bei der Pokalübergabe den Handschlag und erklärte anschließend, mit Blick auf das von taktischen Fesseln geprägte Turnier, vielsagend: "Meine talentierten und klugen Spieler haben die Diktatur der Taktik und den Terror der Systeme besiegt."

Und Kempes? Der Stürmer war anschließend der Held in seiner krisengeschüttelten Heimat. Er wurde zum besten und fairsten Spieler des Turniers ausgezeichnet und war darüber hinaus Torschützenkönig. Einige Jahre später fasste er das Gefühl in seiner Heimat so zusammen: "Der WM-Titel war genau das, was das schwer geprüfte argentinische Volk nötig hatte. Es brachte Freude in sein Leben."

Der damalige Stürmer Leopoldo Luque hatte viele Jahre nach dem Duell mit den Holländern aber auch die andere Seite der Medaille im Kopf: "Mit meinem Wissen von heute kann ich nicht sagen, dass ich stolz auf unseren Sieg wäre. Im Nachhinein betrachtet hätten wir diese Weltmeisterschaft niemals austragen dürfen."

Der argentinische WM-Kader im Überblick

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