WM

Keine Macht der Ohnmacht

Von SPOX
Die Ruhe selbst: Vicente del Bosque und Iker Casillas
© getty

Der Titelverteidiger steht gegen Chile vor dem Aus. Und trotzdem versprüht Spanien jede Menge Euphorie. Das Selbstverständnis eines Champions ist offenbar deutlich stärker als die bedrohlichste Drucksituation. Die Debatten um eine angebliche Zeitenwende im Welt-Fußball laufen aber ohnehin ins Leere.

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Es ist ein geschichtsträchtiger Tag für Spaniens Monarchie. König Juan Carlos wird am Mittwochabend seinen Thron räumen und den Weg frei machen für Kronprinz Felipe VI. Der soll das Land ab Donnerstag regieren.

Den Spaniern steht ein einschneidendes Erlebnis bevor, nachdem sie mit Juan Carlos die Transicion vom Franquismo hin zu einer parlamentarischen Monarchie vollzogen haben und seitdem angekommen sind in der europäischen Gemeinschaft.

Wenn Juan Carlos die letzte Unterschrift seiner fast 39-jährigen Amtszeit tätigt, kämpft im fernen Rio de Janeiro die spanische Nationalmannschaft gegen das unfreiwillige Ende eines beispiellosen Triumphzugs.

Seit dem EM-Triumph von 2008 dominiert Spanien den kontinentalen und den Welt-Fußball, drei Titel in Folge sind noch keiner anderen Mannschaft gelungen.

Kurze Ernüchterung - schneller Umschwung

Das 1:5 zum Auftakt gegen die Niederlande hat den Titelverteidiger für einen Moment schwer getroffen. Der ohnehin schon wortkarge Trainer Vicente del Bosque war in den Stunden nach dem Debakel kaum in der Lage, das Erlebte in Worte zu fassen. "Wir haben eine Niederlage erfahren. Und wir hoffen, dass es nicht zu einem Komplettausfall kommt", kam De Bosque immerhin über die Lippen.

Sein Kapitän Iker Casillas war eine der Figuren der Partie, am Torhüter wurde das Versagen festgemacht. "Wir waren alle nicht gut und ich möchte mich für mein schlechtes Spiel bei euch entschuldigen", sagte Casillas. "Aber es macht keinen Sinn, noch groß darüber zu grübeln. Wir wünschen uns, dass unsere Fans die Partie vergessen und uns bei der nächsten Aufgabe unterstützen."

Der Rückzug in ihr Stammquartier "CT do Caju", dem weitläufigen Klubgelände von Atletico Paranaense, hat die Spanier aber wieder zurück in die Spur gebracht. Seit sechs Jahren hat die Furia Roja nun schon diverse Drucksituationen zu überstehen gehabt.

Erprobt in schwierigen Situationen

Das Finale von Wien 2008 beendete ein 44-jähriges Martyrium, zwei Jahre später ging es ähnlich wie nun bereits um zweiten Gruppenspiel um Alles oder Nichts und dann später im Finale um den ersten WM-Titel der Seleccion. Und vor zwei Jahren in Kiew schaffte die Mannschaft dann tatsächlich Historisches und holte den dritten Titel in Folge.

Spanien ist durchaus mit bedrohlichen Situationen vertraut - und dementsprechend entspannt reagieren sowohl die Spieler als auch die Öffentlichkeit vor dem Spiel gegen Geheimfavorit Chile. Natürlich steigerten die Gazzetten im Land ihre Auflagen in den letzten Tagen und rufen nun in blumigen Worten zum Zusammenhalt auf.

"Tod oder Leben"

"47 Millionen Spanier, 23 Spieler, ein Trainer, eine Mission: Gewinnen!", kündigt die "Marca" an. "Alle gemeinsam für Spanien", fordert "ABC" und die "Sport", nie um eine martialische Schlagzeile verlegen, druckt ab, was viele im Land denken: "Leben oder Tod".

Eine Niederlage gegen die Südamerikaner käme dem sicheren Ausscheiden gleich. Nach Italien (1950 und 2010), Brasilien (1966) und Frankreich (2002) wäre Spanien der fünfte Weltmeister, der bereits nach der Vorrunde die Mission Titelverteidigung beenden müsste.

Viele Mannschaften würden unter dem Druck wohl so langsam einknicken. Aber Spanien ist keine gewöhnliche Mannschaft. Spanien ist ein Champion. In den Tagen nach dem 1:5 ist die Mannschaft noch enger zusammengerückt, die Stimmung hat sich - kaum vorstellbar - sogar noch deutlich verbessert.

Ein 1:5, das kein 1:5 war

Die Iberer wissen das Debakel gegen die Niederländer schon ganz gut einzuordnen. Natürlich sehen fünf Gegentore fürchterlich aus und auch die Ausgangslage als Gruppenletzter ist vor den beiden anstehenden Partien gegen Chile und später noch Australien nicht eben komfortabel. Aber die Mannschaft weiß auch, dass sie die Partie gegen die Niederländer selbst aus der Hand gegeben hat.

David Silva hatte beim Stand von 1:0 die Vorentscheidung auf dem Fuß, stattdessen traf Robin van Persie kurz später zum Ausgleich für den Gegner. Und eine zweite Halbzeit wie jene von Salvador dürfte es so schnell nicht wieder geben. Spanien hat alle erdenklichen Fehler in 45 Minuten gepackt und für den Rest der WM-Teilnehmer ist zu befürchten, dass ab sofort keine neuen mehr dazu kommen.

Jedenfalls vermittelten die Spieler auf der Pressekonferenz vor dem Spiel jene Haltung, die nicht arrogant oder aufgesetzt, sondern in der Tat selbstbewusst und voller Vertrauen in die eigenen Stärken wirkte. "Es gibt Punkte, an denen sich ein Turnier entscheidet. Wir werden eine Lösung haben", sagte Angreifer Pedro, der gegen Chile wohl in die Startelf rücken wird. "Wir werden nicht ein zweites Mal scheitern, wir sind noch nicht tot", sagt Juan Mata.

Alles, nur kein Umbruch

Dabei spekuliert die halbe Welt bereits über eine Zeitenwende im Welt-Fußball. Wegen eines verlorenen Spiels. Die Diskussionen über die satten Stars, über Iker Casillas' Form, das System mit oder ohne echten Stoßstürmer laufen im Hintergrund weiter. Aber die Debatten führen ins Nichts. Spanien war noch nie abhängig von einzelnen Spielern.

Zwei Drittel des spanischen Kaders bestehen aus Weltmeistern von 2010. Trainer Del Bosque hat sich längst umstimmen lassen und seinen Entschluss, nach der WM den Job an den Nagel zu hängen, revidiert.

Das Gros der Mannschaft wird unabhängig vom Turnierverlauf zusammenbleiben, die von einigen Experten formulierten Gedanken an einen Umbruch escheinen eher grotesk als fundiert. Selbst im Falle eines Scheiterns stünden allenfalls drei Spieler im Verdacht, ihr Karriereende in der Seleccion bekanntzugeben: Neben Casillas werden Xabi Alonso und Xavi genannt.

Xavi: Einmal Himmel - und zurück?

Xavis Spiel ist nicht erst seit vergangenem Freitag langsamer geworden. Schon seit rund zwei Jahren streikt der Körper des 34-Jährigen immer mal wieder und dass nun mit dem verletzten Thiago der legitime Nachfolger Xavis nicht zur Verfügung steht, ist in der Tat eine Schwächung.

Auf der anderen Seite war Xavis Spiel auch in jungen Jahren nicht von einer überragenden Körperlichkeit geprägt, auch in seiner 16. Spielzeit war er die bestimmende Figur beim FC Barcelona. Dass am Dienstag die Gerüchte um seinen Weggang aus Katalonien eine neue Wendung bekamen, mag für Barca von Belang sein - für die Nationalmannschaft hat Xavis Zukunftsplanung für diese WM keine Bedeutung.

Lediglich Xavi selbst könnte zum Ende seiner Zeit in der Seleccion wieder an jene Tage erinnert werden, die er in den letzten sechs Jahren stets überwinden konnte. Vor 2006 war die Furia der geborene Verlierer - und als Verlierer würde selbst Xavi nur ungern von der WM-Bühne wieder abtreten.

Die Ohnmacht von Salvador hat sich im spanischen Team nicht lange halten können. Das ist das Signal, das in den letzten Tagen nach außen getragen wurde. Am Ausgang der Partie gegen die hartnäckigen Chilenen gibt es keinen Zweifel. Vor vier Jahren in Südafrika war die Partie gegen die Südamerikaner dieser Punkt, "an dem sich ein Turnier entscheidet", wie es Pedro ausdrückte.

Spanien siegte im letzten Gruppenspiel mit 2:1 und erreichte die K.o.-Runde. Danach kassierte die Mannschaft keinen einzigen Gegentreffer mehr.

Spiele, Trainer, Kapitän: Das ist Spanien