WM

Siggi und die verräterische Orange

SID
Italien gewann das Finale im eigenen Land mit 2:1 nach Verlängerung
© imago
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Übrig blieben allzu durchtrainierte brave blonde Jungs. So wie sie jetzt sein sollten, rank und schlank, flink wie Windhunde, zäh wie Leder. Von einer eigenen Meinung und Persönlichkeit war in all den Reden interessanterweise nie die Rede. Sigmund Haringer hatte das Gefühl, da stinkt etwas ganz gewaltig. Wer waren denn diese Herren, die die Neue Zeit ausriefen, die Überlegenheit der deutschen Tugend und der deutschen Rasse. Der Nerz, der konnte doch nichtmal den Ball hochhalten, ein lausiger Kicker war das. Und die neuen Politiker, denen der Reichstrainer nachschwadronierte?

Diese Herrschaften, die zum Beispiel beim FC Bayern den Präsidenten Landauer und den Trainer Dombi vertrieben hatten, nur weil sie Juden waren. Diese neuen Menschen sollten tugendhafter als der feine Landauer sein? Der Goebbels schob sabbernd seinen Klumpfuß unter jeden Schauspielerinnenrock, der Göring war 'ne fette Sau, und der Hitler predigte Blond, sah aber aus wie ein Slawe. Siggi Haringer wurde jetzt so richtig grantig. Von wem lassen wir uns hier eigentlich vorschreiben, was wir zu tun hätten?

"Das ist Verrat an der Mannschaft"

Dem Siggi reichte es. Er löste sich aus der Gruppe, ging auf einen Obststand zu und kaufte sich die dickste und prallste Orange, die er finden konnte. Herrlich, wie der süße Saft die Kehle runterfloss. Da hörte er es schon von hinten. Diese unangenehm schneidende Stimme: "Haringer! Das ist Verrat an der Mannschaft! Das geht hinterrücks gegen den Teamspirit!"
Noch auf dem Bahnhofsgleis wurde Sigmund Haringer als erster deutscher Nationalspieler aus einem WM-Kader suspendiert. Er stieg in den nächsten Zug nach München und genoss am nächsten Morgen seine Ruhe und sein Frühstück - a Brezn, a Weißwurst und selbstredend a kühles, frisches Weißbier.

Was sonst noch wichtig war

  • Reichstrainer Otto Nerz starb 1949 als Gefangener im sowjetischen Internierungslager Sachsenhausen an Hirnhautentzündung. Antisemitische Hetzartikel aus dem Jahr 1943 hatten zu seiner Internierung geführt. Im Gegensatz zu vielen anderen, die nach kurzen Entnazifizierungsverfahren wieder auf freien Fuß kamen, obwohl sie im Gegensatz zu Nerz auch mit Taten Unrecht und Mord begangen hatten, wurde Nerz ähnlich wie der auch in Sachsenhausen gestorbene Schauspieler Heinrich George als Repräsentant des Nazi-Regimes angesehen. Ob zu recht oder unrecht spaltet in beiden Fällen bis heute die Historiker.
  • Zufall oder Auswirkung der neuen gesellschaftspolitischen Umstände? Die beiden größten deutschen Talente Edmund Conen und Otto Siffling schafften nicht den Sprung in die absolute Weltklasse, der ihnen vorgezeichnet schien. Ein Jahr nach der WM litt der zwanzigjährige Conen unter einer Herzneurose und panischer Angst vor Menschen. Er wurde fast fünf Jahre in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik behandelt, bevor er seine Fußballerkarriere danach wieder aufnahm. Otto Siffling, fünffacher Torschütze beim berühmten 8:0 der Breslau-Elf über Dänemark, verstarb mit nur 26 Jahren an einer verschleppten Rippenfellentzündung. Seit Wochen hatten sich die Zuschauer über die nachlassenden Leistungen von Siffling gewundert. Der verschlossene Stürmer hatte niemandem von seinen Beschwerden erzählt und sich nicht in Behandlung gegeben.
  • Das Spiel um Platz 3 verzögerte sich um eine halbe Stunde. Deutschland und Österreich hatten beide darauf beharrt, in ihrer traditionellen Spielkleidung Weiß-Schwarz anzutreten und posierten in identischer Montur auch schon auf den Mannschaftsfotos. Der Schiedsrichter fand das nicht so dolle und bat die Mannschaften wieder in die Kabinen. Es konnte noch ein Satz himmelblauer Trikots des SSC Neapel aufgetrieben werden - das Los entschied und Österreich mußte in die fremden Jerseys schlüpfen.
  • Die Umstände des ersten italienischen WM-Titels waren skandalös. Die Einflussnahme Mussolinis war enorm und wurde von der FIFA nicht gebremst. Die fünf italienischen Partien wurde ausschließlich von den drei willfährigsten (Un)parteiischen geleitet. Dem Belgier Louis Baert. Dem Schweizer Rene Mercet, der sofort nach dieser WM von seinem Heimatverband auf Lebenszeit gesperrt wurde, weil er den Spaniern im Viertelfinale zwei klare Tore und zwei eindeutige Elfmeter verweigert hatte. Und dem Schweden Ivan Eklind, der im Halbfinale sogar eine gefährliche Flanke der Österreicher aus dem italienischen Sechzehner köpfte! Mit dieser einmaligen Aktion hatte sich der Mann für die Leitung des Finales empfohlen. Am Abend vor dem Endspiel aßen Mussolini und Eklind nachweislich gemeinsam zu Abend.
  • Luis Monti ist der erste Spieler der WM-Geschichte, der zwei Endspiele bestritt. 1930 stand er noch in den Reihen der unterlegenen Argentinier. Dann Wechsel zu Juventus Turin und der Staatsbürgerschaft. Monti gilt als einer der härtesten Spieler aller Zeiten und als Begründer der berüchtigten südamerikanischen Innenverteidigerschule.

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