WM

1930: Eckig vs. T-Förmig

SID
Gastgeber Uruguay besiegte Argentinien im WM-Finale 1930 mit 4:2
© imago

Am 12. Juni beginnt die WM 2014 in Brasilien. GO!Brasil-Experte Uwe Morawe blickt für SPOX in 19 gewohnt launigen Kolumnen auf die WM-Geschichte zurück. Folge 1, die WM 1930 in Uruguay: 22 sich überschlagende Männerstimmen, ein turbulentes Handgemenge, heraustretende Adern und Augäpfel. Das alles wegen des Spielballes.

Anzeige
Cookie-Einstellungen

Dass man als Schiedsrichter ab und an bedroht wird, war John Langenus ja gewohnt. Während oder nach einer hitzigen Partie. Aber diese hormongeschwängerte Wut bereits vor dem Anpfiff? Das war für neu.

Seit fünf Minuten dieses 30. Juli 1930 sollte das erste Finale in der Geschichte der Fußballweltmeisterschaft bereits laufen. Von ihm, dem Belgier John Langenus, angepfiffen. Und jetzt er stand er immer noch inmitten einer aufbrausenden Horde von Spielern im Kabinengang. Der Referee kam sich fehl am Platze vor in seinen Knickerbockern, dem weißen Hemd mit Krawatte und feinem schwarzem Jackett.

Natürlich war ihm bewusst, dass er darin an einen Storch im Salat erinnerte, aber diese Aufmachung hatte etwas Vornehmes und Abstand Gebietendes. Erstmals in seiner Karriere schien diese Maskerade in ihrer Funktion als schützende Ritterrüstung zu versagen. Unterschiedliche Welten prallten hier im Spielertunnel aufeinander. Langenus war als wallonischer Diplomatensohn nicht zufällig auf den englischen Vornamen "John" getauft worden, er war vielsprachig aufgewachsen, beherrschte Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch. Bis eben hatte er selbstsicher geglaubt: auch Spanisch.

Streitpunkt Spielball

Doch von diesem zischelnd kehligen südamerikanischen Dialekt aus über zwanzig Kehlen war seine spanische Schulgrammatik so weit entfernt wie er selber von einer ordnungsgemäßen Durchführung des anstehenden Endspiels. Immerhin, der Kern des ganzen Geschubses und Gedränges wurde deutlicher: es ging um den Spielball. Der argentinische Kapitän Ferreira hielt ihm ständig eine konventionell aus langen Streifen genähte Lederkugel vor die Nase.

Diese wurde immer wieder von einem anderen Spielgerät aus dem Gesichtsfeld von Langenus herausgedrückt. Bei näherer Betrachtung - die in all der Unruhe nicht eben leicht fiel - war zu erkennen, dass der Ball, den der Uruguayer Nasazzi fest umherschüttelte, tatsächlich andersartig verarbeitet war. Ihn hielten T-förmige Lederstücke zusammen.

Selbstredend wusste der Referee, dass es keinesfalls um eine Diskussion ging, ob nun das nördliche oder südliche Ufer des Rio de la Plata die höherstehende Sattlereikunst beherberge. Allenfalls spielte eine Spur Aberglaube mit hinein. Im Kern jedoch ging es um ihn selbst, John Langenus.

Er sollte auf die eine oder andere Seite gezogen werden. Wenn er jetzt keine vernünftige Lösung fände, hätte der spätere Verlierer den Sündenbock für die Niederlage bereits gefunden: ihn, den Schiedsrichter. Resigniert stellte Langenus fest: nicht einmal eine simple Geschichte wie die Organisation des Spielballs hatte die FIFA hinbekommen.

Olympia als Vorbild

Dabei waren vor zwei Jahren doch alle noch so begeistert gewesen, als die Idee einer Weltmeisterschaft konkreter wurde. Ermuntert durch den Erfolg der Fußballturniere bei den Olympischen Spielen 1924 und 1928 wollte man den Schritt wagen. Frankreich und Deutschland warfen ihren Hut in den Ring und bewarben sich als erste Ausrichternation. Als der sittenstrenge DFB erfuhr, dass auch Profifußballer an den Start gehen sollten, erkaltete das deutsche Interesse. Und weil die FIFA schon damals einen ähnlich großen Machtanspruch wie heute vertrat, jedoch über keinerlei Budget verfügte, sprang auch Frankreich ab. Der Weltverband hatte beschlossen, dass der Ausrichter selbst sämtliche Ausgaben von Stadionbauten über Reisekosten und Unterbringung aller Teilnehmer zu tragen hatte.

Typisch FIFA, dachte John Langenus. Laden sich selbst mit 500 Gästen bei einem gutgläubigen Kumpel ein, und der soll noch zahlen. Ihm selbst hatten die weltfremden Funktionäre bei seiner Schiedsrichterprüfung für internationale Partien folgende Frage gestellt: "Wie ist das Spiel fortzusetzen, wenn ein hoch geschlagener Ball ein zufällig über das Spielfeld schwebendes Flugzeug trifft?" Langenus hatte die Antwort auf solch Blödsinn schlicht verweigert und den Sitzungsraum mit der Empfehlung verlassen, man solle sich doch einfach Spiele unter seiner Leitung anschauen und dann entscheiden. Drei Monate später hatte er überraschenderweise die Lizenz.

Und sie führte den neugierigen jungen Schiedsrichter hinaus in die weite Welt. Das kleine stolze Uruguay hatte entschieden, wir ziehen das durch. Trotz Weltwirtschaftskrise wollte man den Ländern aller Kontingente ein guter Gastgeber sein. Die Goldmedaillen bei den beiden letzten Olympischen Spielen hatten selbstbewusst gemacht. Zudem feierte die demokratische Republik im 3-Millionen-Volk hundertjähriges Bestehen.

Zu weit, zu umständlich, zu ungewiss

Also wurde in nur elf Monaten das größte und modernste Stadion Südamerikas aus dem Boden gestampft, das Centenario in Montevideo. Problem nur, die Europäer wollten nicht! Zu weit, zu umständlich, zu ungewiss.

Vier Monate vor Beginn der WM hatte noch nicht ein einziges europäisches Land zugesagt. Erst das Betteln und Klinkenputzen von FIFA-Präsident Jules Rimet stellte sicher, dass mit Frankreich, Jugoslawien und den zweitklassigen Rumänen und Belgiern zumindest vier Nationen vom alten Kontinent die Dampfer bestiegen. Die WM-Premiere startete mit lediglich 13 Mannschaften.

In Anbetracht dieser Umstände hatte das Turnier bis zum heutigen Finale ganz ordentlich funktioniert. OK, das Stadion war exakt fünf Tage zu spät fertiggestellt worden. Machte nichts, wurde die Eröffnungsfeier eben nachgeholt, nachdem die ersten Gruppenspiele in kleineren Arenen bereits absolviert waren. Zudem hatte ein ängstlicher Kollege die Partie Argentinien-Frankreich beim Stand von 1:0 genau in dem Moment abgepfiffen, als ein Franzose allein auf den Torhüter zulief - in der 84.Minute! Das alles wurde akribisch festgehalten von John Langenus, der neben seinem Job als Schiedsrichter auch die Spielberichte für die deutsche Zeitschrift Kicker verfasste und durchtelegrafierte.

Wie gesagt, nur kleinere Ungereimtheiten bisher. Die beiden eindeutig stärksten Mannschaften hatten das Endspiel erreicht, Uruguay und Argentinien. Zwei, die sich mal gar nicht mochten und sich bereits im Olympia-Finale von Amsterdam zwei Jahre zuvor auf die Schienbeine geklopft hatten. Endstand damals 2:1 für Uruguay im Wiederholungsspiel. Aber jetzt waren wir nicht im weit entfernten Europa, jetzt fand dieses Spiel vor 90.000 frenetischen Südamerikanern statt.

Seite 1: Die Olympischen Spiele als Vorbild, keine Überraschungen im Finale

Seite 2: Einlass bis vier Stunden vor Anpfiff, der Gordische Knoten platzt