WM

El Shaarawy: Milans neue Wunderwaffe

Von Daniel Reimann
Stephan El Shaarawy hat in der laufenden Liga-Saison bereits zehn Tore erzielt
© Getty

Stephan El Shaarawy brachte mit seiner Eitelkeit schon Ex-Teamkollege Gattuso auf die Palme. Heute wird er von Silvio Berlusconi geadelt, obwohl der Monate vorher nicht einmal seinen Namen kannte. El Shaarawy hat sich zu Milans Lebensversicherung entwickelt - Zlatan Ibrahmovic sei Dank.

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Alles ist bereit für den großen Auftritt: Die Kamera-Teams wetteifern um die besten Plätze, als sich der Hubschrauber langsam über dem Milanello senkt. Milans Trainingsgelände wird in diesem Moment zur Bühne umfunktioniert, der Protagonist ist kein Geringerer als Il Cavaliere persönlich.

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Silvio Berlusconi fühlt sich sichtlich wohl im Blitzlichtgewitter. Lächelnd steigt er aus, schüttelt ein paar Hände und stolziert majestätisch Richtung Trainingsplatz. Begleitet von einer Horde Anzugträger begrüßt er seine Schützlinge: Medienwirksam, jeden einzeln, stets mit dem Berlusconi-Lächeln im Gesicht.

Der Erste, der eine Audienz beim Vereinspräsidenten erhält, ist Stephan El Shaarawy. Der 20-Jährige ist Mailands neuer Liebling, seit Wochen knipst der Linksaußen nach Belieben. Vor einigen Monaten noch wusste Berlusconi nicht einmal dessen Namen, nannte ihn nur den "kleinen Ägypter". An diesem Tag kann davon jedoch keine Rede mehr sein.

"Es ist keine Überraschung, dass El Shaarawy so spielt, denn ich war es, der ihn verpflichten wollte", tönt Berlusconi, als er hinterher auf die derzeitige Form des Shootingsstars angesprochen wird. Doch wunschlos glücklich ist der Cavaliere mit El Shaarawy dennoch nicht: "Es wäre großartig, wenn er endlich mal seine Frisur ändern würde", mosert der Präsident.

Standpauke von Gattuso

El Shaarawy selbst dürfte die kleine Stilkritik angesichts des vorhergegangenen Lobes kaum tangieren, zumal die Debatte um seine Haarpracht heutzutage eher einem Running Gag ähnelt und im Schatten seines sportlichen Durchbruchs untergeht. Doch das war nicht immer so.

In der vergangenen Saison sorgte sein extravagantes Aussehen für Verärgerung bei so manchem Teamkollegen, wie der 20-Jährige in einem Interview verriet: "Gennaro Gattuso hasste meine Augenbrauen. Als er zum ersten Mal bemerkte, dass ich sie gezupft hatte, wurde er wütend. Er sagte mir, das Einzige, worum ich mich kümmern sollte, sei der Fußball und wie ich mich darin verbessern könne."

Wie viel Verbesserungspotenzial in ihm steckt, konnte El Shaarawy in der letzten Spielzeit jedoch kaum beweisen, denn dem Youngster fehlten schlicht die Einsatzzeiten. In Mailands Zwei-Mann-Sturm wechselten sich Pato, Robinho und Antonio Cassano an der Seite von Dauerbrenner Zlatan Ibrahimovic ab, für El Shaarawy blieb da kaum Platz. Die ernüchternde Liga-Bilanz: Nur ein Spiel über 90 Minuten, dazu lediglich zwei Tore.

Doch die anschließende Sommerpause sollte seine Situation grundlegend verändern.

"Ibrahimovics Abschied war gut für mich"

Denn nach zwei Jahren und 56 Pflichtspieltoren kehrte Ibrahimovic Italien wieder den Rücken und wechselte gemeinsam mit Verteidiger Thiago Silva zu Paris-Saint Germain.

Präsident Berlusconi rechtfertigte die prominenten Abschiede, indem er auf Einsparungen in Höhe von 150 Millionen Euro verwies. Doch den lauten Aufschrei der Fans konnte er damit nicht dämpfen. Zu groß war die Sorge um ihren AC nach den schwerwiegenden Abgängen.

Doch einem Mailänder fiel in jenem Moment ein Stein vom Herzen: "Ibrahimovics Abschied war gut für mich", sagt El Shaarawy rückblickend.

Denn in seinen wenigen Einsätzen an der Seite des Schweden hatte es El Shaarawy zumeist schwer: "Es war nie leicht, mit Ibra zu spielen. Alles, was du machen musst, ist ihm den Ball zu geben. Andernfalls brüllt er dich an oder spielt dir hinterher Streiche."

Neues System liegt El Shaarawy

Stattdessen kann sich der Youngster nun auf die eigenen Stärken konzentrieren und sich in den Vordergrund spielen. Dass er dazu genügend Gelegenheiten bekommen würde, war nach dem Weggang von Ibrahimovic gewiss, zumal sich Wochen später mit Cassano ein weiterer Stürmer, der in der Hierarchie über ihm stand, vom Acker machte.

Als wäre der Abschied zweier Konkurrenten allein noch keine optimale Steilvorlage für den Youngster, überdachte Trainer Massimiliano Allegri obendrein sein Spielsystem. Das starre 4-4-2 der vergangenen Saison fand zuletzt kaum noch Anwendung, stattdessen setzt Allegri wechselweise auf ein flexibleres 4-2-3-1- beziehungsweise 4-3-3-System, in dem El Shaarawy mehr Freiheiten hat und seine Vorzüge stärker zur Geltung kommen.

Wenn sich der Ballkünstler mit der Nummer 92 auf Linksaußen ins Dribbling stürzt und Richtung Mitte zieht, ist er nur schwer aufzuhalten. Sein Drang zum Tor ist unbändig, seine Ballbehandlung extraklasse. Gepaart mit einer ungewöhnlichen Coolness im Abschluss machten diese Eigenschaften El Shaarawy zu Mailands gefährlichster Offensivwaffe.

Neue Frisur? "Nicht einmal für Herrn Berlusconi"

In Zahlen ausgedrückt wirkt sein Arbeitsnachweis noch beeindruckender: Mit zehn Toren und einer Vorlage war er an über der Hälfte aller Milan-Treffer in der Liga direkt beteiligt. Nicht auszudenken, wo die Rossoneri in dieser erwartet schwierigen Saison ohne ihren Nachwuchs-Goalgetter stünden. Der 20-Jährige hat sich zu Milans neuer Lebensversicherung gemausert.

Zugleich scheint er den Rat von Ex-Teamkollege Gattuso beherzigt zu haben: Das Streben nach ständiger Verbesserung des eigenen Spiels ist El Shaarawy anzumerken. Selbst Trainer Allegri zeigte sich ob der raschen Fortschritte seines Schützlings überrascht: "Er ist ein total anderer Spieler als noch vor zwei Monaten, seine Entwicklung kam absolut unerwartet. Es kommt selten vor, dass sich ein Spieler so schnell entwickelt."

Auch die von Gattuso eingeforderte Fokussierung auf den Fußball hat El Shaarawy verinnerlicht. Seine Frisur mag extravagant und der Mensch El Shaarawy eitel wirken, doch von einem exzentrischen Star-Leben a la Balotelli will der 20-Jährige nichts wissen: "Ich möchte mich einzig und allein auf Fußball konzentrieren. Ich gehe nicht in Clubs und habe keine Freundin", schwört er, wenngleich er eingesteht, dass es ihm dieses Jahr schwer fiel, "mit beiden Füßen auf dem Boden zu bleiben".

Einzig bei den Augenbrauen und der mühevoll gestalteten Haarpracht lässt sich El Shaarawy nicht reinreden, sein Irokesen-Kamm steht bis heute. Ob er sich je von ihm verabschiedet? "Das würde ich nicht einmal für Herrn Berlusconi machen", witzelt El Shaarawy, "höchstens für den Gewinn der Champions League." Ein Szenario, dass selbst den Cavaliere wunschlos glücklich machen dürfte.

Stephan El Shaarawy im Steckbrief