WM

"Ich konnte Zidane verstehen"

Von Interview: Marcus Giebel
Beim Spiel um Platz drei standen Jens Nowotny (l.) und Oliver Kahn letzmals gemeinsam auf dem Platz
© Imago
Cookie-Einstellungen

SPOX: Kommen wir zum Sportlichen. In der Gruppe lief es recht locker. Im Achtelfinale gegen Schweden ist das Team auch problemlos durchgekommen. Hat Sie der souveräne Durchmarsch überrascht?

Nowotny: Man kommt in so einen Kreislauf rein. Wenn man gut startet und die Euphorie da ist, zusätzlich der Motivationsschub von Klinsmann. Und dann kommen die Leute auf dich zu. Nicht nur die Schulterklopfer, sondern die vom Team, vom DFB, vom Hotel. Alles kam vom Herzen. Du verspürt einfach diesen Stolz, bekommst Selbstvertrauen und das Selbstbewusstsein wächst. Letztlich kommt eines zum anderen. Also war es nicht überraschend.

SPOX: Im Viertelfinale wartete Argentinien. Vor dem Turnier wäre Deutschland klarer Außenseiter gewesen, doch nach den zwei Wochen ist man sich auf Augenhöhe begegnet. Wie geht man in so ein Spiel?

Nowotny: Argentinien war natürlich eine andere Hausnummer als Schweden. Sie sind als Topfavorit angereist. Da ist man schon besonders motiviert. Hinzu kommt, dass es eine Entscheidung gibt. Wenn du verlierst, bekommst du keine zweite Chance.

SPOX: Das Viertelfinale musste im Elfmeterschießen entschieden werden. Wissen Sie noch, was Sie während der Strafstöße gemacht haben?

Nowotny: Das ist nur Hoffen. Man versucht zu analysieren, wie der Schütze drauf ist. Ach, der verschießt. Unser Mann ist gut drauf, der trifft. Jens Lehmann ist gut drauf, der hält den.

SPOX: Nach dem Spiel gab es auf dem Rasen unschöne Szenen mit den Auseinandersetzungen. Wie haben Sie das erlebt?

Nowotny: Das habe ich in der Situation gar nicht so mitgekriegt. Ich habe schon gesehen, dass sich da eine Traube gebildet hat, aber nicht, was genau vorgefallen ist.

So lief die WM 2006 in Deutschland

SPOX: Als Folge aus den Tumulten wurde Torsten Frings für das Halbfinale gesperrt. Ein herber Schlag - er war neben Lehmann und Michael Ballack einer der Führungsspieler.

Nowotny: Das war eine Frechheit.

SPOX: Von der FIFA oder von den Argentiniern?

Nowotny: Ich meine, dass die Sperre aufgrund von Fernsehberichten der Italiener ausgesprochen wurde. Das hat nichts mehr mit Fairness zu tun. Es gab genug Leute, die zwei Monate lang keine Spaghetti gegessen haben. Deshalb konnte ich im Endspiel auch eher Zinedine Zidane verstehen als Marco Materazzi (Zidane flog nach einem Kopfstoß gegen den pöbelnden Materazzi vom Platz, Anm. d. Red.).

SPOX: Das Halbfinale gegen Italien war ein sehr taktisch geprägtes Spiel. Hat das Team letztlich zu sehr auf Elfmeterschießen spekuliert?

Nowotny: Das hatte den Eindruck. Zum Ende des Spiels haben wir uns zu sehr zurückgezogen. Wir haben gehofft und uns gesagt: Elfmeterschießen - das gewinnen wir ja sowieso. Das hat uns auch den Sieg gekostet.

SPOX: In der 119. Minute folgte der Schock durch den Treffer von Fabio Grosso.

Nowotny: Damit war das Thema durch. So schnell konnten wir den Schalter nicht mehr umlegen. Da war sofort klar: Es ist vorbei.

SPOX: Das Turnier war aber noch nicht zu Ende. Zum Spiel um Platz drei ging es nach Stuttgart. Die Stimmung soll dort sogar noch besser gewesen sein als in Berlin. Am Abend vor dem Spiel hat die Mannschaft am Hotelfenster mit den Fans gefeiert.

Nowotny: Das war gigantisch. Das sind die Dinge, die immer hängen bleiben. Dass man es geschafft hat, von der ersten Minute an immer mehr Leute zu begeistern. Und wenn die eigenen Fans im Land angesteckt werden, sind auch die ausländischen Mitbürger positiv gestimmt. Das hat alles dazu beigetragen, dass es ein toller Event wurde.

SPOX: Für das Spiel gegen Portugal waren Sie wieder als Ersatzspieler vorgesehen. Aber weil sich Robert Huth beim Aufwärmen verletzte, wurden Sie ins kalte Wasser geworfen. Nicht gerade der glücklichste Umstand für den persönlichen Start ins Turnier.

Nowotny: Es war der beste Umstand. So hat meine Karriere auch begonnen. Ich habe damals anderthalb Stunden vor dem Spiel mit Karlsruhe gegen Hamburg nicht gewusst, dass ich spiele. Dann haben wir 2:1 gewonnen. Insofern sind gewisse Parallelen da. Es ist in so einer Situation das Beste, was dir passieren kann.

SPOX: Für Oliver Kahn und Luis Figo war es das letzte Länderspiel. Sie selbst haben nach der WM noch gegen Schweden mitgespielt, bevor Ihre Nationalmannschaftskarriere endete. War somit Portugal schon der Abschluss?

Nowotny: Ich glaube, wenn ich mich nicht wieder verletzt hätte, wäre es noch weitergegangen. Bei der Nationalmannschaft ist es ja so: Du wirst eingeladen. Spielst du gut, wirst du wieder eingeladen. Wir haben gegen Schweden 3:0 gewonnen und ich habe gut gespielt. Also wäre ich das nächste Mal wieder dabei gewesen. Hätte ich aufgrund der Verletzung nicht aufhören müssen, wäre die EM 2008 ein Ziel gewesen.

SPOX: In der Mannschaft gab es eine Diskussion, ob sich die Spieler zum Ende der WM in Berlin von den Fans verabschieden sollen. Wie war Ihre Meinung?

Nowotny: Wir mussten natürlich nach Berlin. Du musstest dich von den Leuten ja nicht nur feiern lassen, sondern den Millionen Anhängern Respekt zollen. So konnten wir uns bedanken - das gehört sich einfach. Das habe ich so auch in der Diskussion dargelegt.

SPOX: Welche Gefühle hatten Sie, als Sie am Brandenburger Tor vor Hunderttausenden auf die Bühne gingen?

Nowotny: Wenn du zum Horizont guckst, siehst du Leute stehen, die dich gar nicht erkennen. Es ist ein gigantisches Gefühl, wenn du Tage später liest, dass eine Million Menschen am Brandenburger Tor die Mannschaft empfangen haben. Das kann man sich gar nicht vorstellen. So einen Empfang hat ja nicht mal der Papst.

SPOX: Welches war für Sie der größte Moment während dieser WM?

Nowotny: Das war nach dem Spiel gegen Portugal. Ich habe zu meiner Familie geguckt und gesehen, dass mein Sohn auf dem Arm meines Vaters schläft.

SPOX: Vier Jahre später kämpft das DFB-Team wieder um den WM-Titel. Kann man das heutige mit dem Team von 2006 vergleichen?

Nowotny: Es gibt sicher genauso viele Parallelen wie Unterschiede. Die Euphorie ist nicht ganz so groß, weil die WM nicht in Deutschland ist. Aber eine große Parallele ist, dass du dich mit der Mannschaft jetzt genauso wie mit der vor vier Jahren hundertprozentig identifizieren kannst.

SPOX: Anders als 2006 gab es nun schon in der Vorrunde einen Dämpfer. Wie sehen Sie die Titel-Chancen nach dem 0:1 gegen Serbien?

Nowotny: Ich sehe da gar kein Problem. Man hat jetzt einen kleinen Rückschlag erhalten. Im nächsten Spiel gegen Ghana geht es um alles. Da setzt man sich durch und dann ist wieder alles im Lot. Du musst ja nur weiterkommen.

Nowotny über Klinsmanns Motivationstechniken & den Musikgeschmack der Kicker