WM

Die hohe Kunst der Defensive

Von Florian Bogner
Defensivspezialist Gilberto Silva (r.) hat bereits 97 Länderspiele für Brasilien auf dem Buckel
© Getty

Gilberto Silva steht in der brasilianischen Nationalmannschaft in einer Reihe mit Alemao, Carlos Dunga und Cesar Sampaio. Harte Arbeiter, deren Wert fürs Team in der Heimat nie besonders gewürdigt wurde. Das könnte sich nach diesem Turnier ändern.

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Edmund Stoiber kam anno 2002 verbal ein wenig ins Schlingern. "Wer ein Trio vorne hat wie Ronaldo, Ronaldinho und... die anderen Brasilianer ... Roberto Carlos... Rivaldo dazu noch... also... das dann verloren zu haben, das ist zwar bitter, aber nicht so bitter", sagte der bayerische Ministerpräsident und Kanzlerkandidat damals zum 0:2 der DFB-Elf im WM-Finale gegen Brasilien. Zumindest so ungefähr.

Zugegeben, angesichts der geballten Qualität der brasilianischen Offensive konnte man durchaus ins Stottern geraten. Wäre Stoiber jedoch nicht unter so großem Druck gestanden, hätte er frei sprechen und eine Weile überlegen dürfen, wäre er wahrscheinlich dennoch nicht auf den wichtigsten Rollenspieler der Selecao damals gekommen: Gilberto Silva.

Scolari und der Tod der Fußball-Poesie

Wie auch, Trainer Luis Felipe Scolari hatte schließlich einem mehr oder weniger Unbekannten die Sechser-Position der Brasilianer anvertraut. Der damals schon 25-Jährige hatte bis dato gerade mal drei Erstliga-Spielzeiten in der Heimat bei Atletico Mineiro hinter sich gebracht und war fünfeinhalb Jahre bevor er in Yokohama plötzlich den WM-Pokal in Händen hielt, noch in einer staubigen Süßigkeitenfabrik am Fließband gestanden.

Und doch griff Scolari auf Gilberto Silva zurück, als er kurz vor Turnierstart erfuhr, dass sich Stammspieler Emerson bei einer albernen Torwartaktion derart schlimm an der Schulter verletzt hatte, dass dieser das Turnier verpassen würde. Er hätte es nicht besser treffen können. In dem treuen Ballapportierer aus Lagoa da Prata fand Scolari die perfekte Ergänzung zu Ronaldo, Rivaldo und Co.

Überhaupt hatte Scolari mit seiner Mischung aus Einzelkönnern und harten Arbeitern einen Paradigmenwechsel bei der Canarinha, der kanariengelben Auswahl, eingeleitet. Nach dem WM-Titel fand er, dass es an der Zeit ist, dies den Landsleuten mitzuteilen.

"Ein Wort an alle Brasilianer", sagte Scolari damals. "Vergesst niemals dieses Team, denn das ist der Weg: Zusammen, in der Gemeinschaft, sind so viele Dinge möglich." Und: "Die Idee, dass Brasilien Fußball als Kunst betreibt, ist etwas Poetisches, etwas Utopisches aus den fünfziger Jahren. Das gibt es nicht mehr."

"Keiner, der das Dribbling sucht"

Die Geschichte der Selecao ist geprägt von den Peles, Garrinchas, Zicos und Socrates' - kurzum: dem Selbstverständnis, immer die spielerisch besten Fußballer des Planeten in den eigenen Reihen zu haben.

Als Brasilien jedoch 1986 mit dem genialsten Mittelfeld aller Zeiten schon zum zweiten Mal vorzeitig von einer WM abreisen musste, geriet dieses Selbstverständnis ins Wanken. "Das war schlecht für den Weltfußball, weil er sich in die falsche Richtung entwickelt hat", moserte Zico damals.

Brasilien musste lernen, dass es die falsche Richtung nicht gibt - und vor allem, dass es auch einiger Defensivstrategen bedarf, um im modernen Fußball Schritt halten zu können. Seit dem gibt es neben den Stars der Szene auch immer die Alemaos, Dungas, Cesar Sampaios oder eben Gilberto Silvas, die den anderen den Rücken frei halten.

"Ich bin kein Spieler, der das Dribbling sucht, Tore schießt oder irgendwas für die Galerie aufführt", sagt Gilberto Silva. Ein Fußballteam sei mit einer Musik-Band zu vergleichen: Jeder hat seine Funktion. "Der eine ist fürs Toreschießen zuständig, der andere für die Verteidigung. In der Selecao haben wir nur so die richtige Balance gefunden: Weil jeder seine Funktion gut ausfüllt."

Dunga und das Erbe Scolaris

Früher ging damit aber auch einher, dass man als Defensivspezialist vom brasilianischen Volk zwar anerkannt, aber keineswegs gefeiert wurde. Dunga wird in Brasilien "o alemao", der Deutsche, genannt, was nicht unbedingt ein Kompliment ist, sondern eher seiner Spiel- und Denkweise entspricht.

Erst 1994 wurde mit Cafu erstmals ein Abwehrspieler zu Brasiliens Fußballer des Jahres gewählt. "Ich weiß, dass meine Arbeit auf dem Platz von vielen Menschen nicht beachtet wird", sagt Gilberto Silva. "Aber das macht nichts. Ich weiß, mein Job ist im Interesse des ganzen Teams. Und irgendjemand muss ihn machen."

Für Gilberto Silva ist es ein Segen, dass Carlos Dunga nach dem Scheitern von Carlos Alberto Parreira bei der WM 2006 quasi an Scolari anknüpfte und das defensive System noch weiter entwickelte. Der heute 33-Jährige wäre sonst wohl nicht mehr in den Genuss einer dritten Weltmeisterschaft gekommen. Gilberto Silva ist nicht mehr der Schnellste, er spielt keine atemberaubenden Pässe und er schießt keine Tore, ist sogar seit fast 90 Länderspielen ohne Treffer.

"Veron hat Erfahrung, ich bin zu alt"

Doch fürs Toreschießen hat Dunga andere im Team. Gilberto Silva soll zusammen mit Felipe Melo (bzw. Ramires) das Zentrum dicht machen, das ist sein Job. "Konter kann man gegen die Brasilianer nicht spielen, weil sie immer mit diesen beiden zusätzlich hinten bleiben", erklärte ein frustrierter Sven-Göran Eriksson nach dem 3:1 der Brasilianer über die Elfenbeinküste.

Drei Spiele ist Brasilien nur noch vom sechsten WM-Titel entfernt und es hat den Anschein, als ob sich das Volk so langsam mit Dungas Defensivtaktik abfindet. "Früher hieß es: 'Angriff ist die beste Verteidigung'. Nun heißt es: 'Verteidigung ist der beste Angriff'", schrieb die Sportzeitung "Globo Esporto" nach dem Achtelfinal-Sieg über Chile voller Anerkennung. Und selbst der magische Robinho meinte kürzlich: "Ein Tor durch Fallrückzieher zählt genau so viel wie ein Tor durch einen Abpraller."

Gilberto Silva freut das, weil er und seine Spielweise sowieso immer zu wenig Lob abbekommen. "Wissen Sie, wenn die Leute über Veron sprechen, sagen sie, dass seine Erfahrung Argentinien hilft. Bei mir ist das nicht so. Es heißt immer nur: Gilberto Silva ist zu alt." In der Heimat kreidet man Silva an, dass er ja nur noch bei einem zweitklassigen Verein spiele und deswegen nicht mehr das Niveau für die Selecao habe.

Nach Athen - der Selecao wegen

Wie heißt der Verein noch mal, Panathinaikos Athen? "Die Entscheidung, nach Griechenland zu wechseln, war wichtig für mich und ich habe sie nicht bereut", sagt Gilberto Silva, der 2008 den FC Arsenal verließ - der Nationalmannschaft wegen. "Zwar spiele ich jetzt in einer weniger bekannten Liga, aber ich wusste einfach, dass ich regelmäßig zum Einsatz kommen muss, um meinen Stammplatz in der Selecao nicht zu verlieren."

In der Selecao sei es nämlich so: Wenn man seine Chance bekommt, muss man auf dem Posten sein, denn manchmal bekommt man nur eine im Leben. "Es ist schon schwierig, überhaupt ins Team zu kommen, aber noch schwieriger ist es, sich dort längere Zeit zu halten", sagt Gilberto Silva.

Carlos Dunga weiß, was er an Gilberto Silva hat, den sie in Brasilien auch "parede invisivel", die unsichtbare Mauer, nennen. Und wenn Brasilien erneut Weltmeister wird, hat ihn vielleicht diesmal auch Edmund Stoiber auf der Rechnung.

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