WM

Englische Urangst um Lampard und Gerrard

Von Oliver Wittenburg
Frank Lampard (l.) erzielte in 78 Länderspielen 20 Tore, Steven Gerrard in 80 Spielen 16
© Getty

32 Teams nehmen an der Weltmeisterschaft in Südafrika teil. Jedes Teilnehmerland hat seine eigene Geschichte zu erzählen. SPOX greift aktuelle Entwicklungen auf, lässt Protagonisten zu Wort kommen oder beleuchtet historische Ereignisse. Heute: England und das Rätsel um Lampard und Gerrard.

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Da ist sie wieder. Unausrottbar wie Gerüchte über den Mineralgehalt von Spinat. Eine der großen Fragen der Menschheit ohne Zweifel. Für den englischen Fußballfan noch wichtiger als die Suche nach dem Sinn des Lebens.

Seit sechs Jahren beschäftigt die Unvereinbarkeit von Frank Lampard und Steven Gerrard das selbsternannte Mutterland des Fußballs.

Ein Luxusproblem, das einhergehend mit überschaubarem internationalen Erfolg, die letzten beiden Nationaltrainer Sven Göran Eriksson und Steve McClaren den Job kostete.

Strikte Trennung

Der neue Boss, Fabio Capello, tat nach Meinung der Engländer bislang genau das Richtige: Er stellte Lampard und Gerrard sehr wohl gemeinsam auf, aber eben nicht zusammen im zentralen Mittelfeld.

Fiel einer der beiden aus, stellte sich die Kompatibilitätsfrage sowieso nicht, waren beide fit, spielte Liverpools Gerrard auf der linken Seite und Chelseas Lampard durfte sich in der Mitte austoben.

Und das funktionierte hervorragend, wie vor allem das 5:1 in der WM-Qualifikation gegen Kroatien zeigte, als beide Mittelfeld-Granden je zweimal trafen.

Den zweiten Platz in der Zentrale bekleidete in den wichtigen Spielen unter Capello Gareth Barry. Ein einziges Mal fehlte der 29-Jährige von Manchester City in der WM-Quali und prompt setzte es in Kiew die einzige Niederlage einer ansonsten beachtlich souveränen Kampagne (10 Spiele, 27 Punkte, 34:6 Tore).

Jetzt fehlte Barry wieder. Eine Sprunggelenksverletzung zwang ihn zu einer Pause während der heißen Phase der Vorbereitung und auch beim Auftakt der Endrunde gegen die USA (12.6., 20.15 Uhr im LIVE-TICKER) kann er nicht spielen.

Geh bloß nicht in die alte Falle, Fab

Also musste Capello seine bis dahin bevorzugte Mittelfeldvier umbauen. Und bevor es noch richtig losging, war sie wieder da. Die Angst, dass Capello auf die Idee kommen könnte, Lampard und Gerrard gemeinsam ins Zentrum zu stellen und sehenden Auges in die Katastrophe zu steuern.

Denn: Lampard UND Gerrard, Seite an Seite - das funktioniert ja nicht. Das weiß man in England.

Dementsprechend schallten Capello die Warnungen, bloß nicht in die alte Falle zu gehen, von allen medialen Plattformen entgegen. Er solle sich doch bitte vor dem ersten WM-Spiel ein paar alte Videos ansehen und sich das Ganze vielleicht doch noch mal überlegen, meinte eine Zeitung.

Das doppelte Sicherheitsrisiko

Ein anderes Blatt zählt Argumente auf, warum die Paarung Lampard/Gerrard funktionieren könnte und warum nicht. Auf der Pro-Seite stehen die Hoffnung auf die Wunderkräfte Capellos, der Faktor Zeit und die Erinnerung daran, dass die Vorrundengegner ja alle recht schwach seien und Barry ja wohl irgendwann wiederkomme.

Kontra: Beide hätten kein Gefühl und Talent für die Arbeit in der Defensive und wären dadurch ein Sicherheitsrisiko. Beide könnten die gegenseitige Absicherung einfach vergessen, munter nach vorn preschen und wären dadurch ein Sicherheitsrisiko. Beide könnten durch die fortwährende Debatte und die Angst vor Fehlern gelähmt werden und würden dadurch Englands Spiel zum Erliegen bringen.

Die Sorge ist sicher nicht unbegründet: Gerrard ist in Liverpool über die Jahre fast schon zu einer hängenden Spitze mutiert und wird mit jedem Meter stärker, dem er dem gegnerischen Strafraum näherkommt. Und Chelsea hält sich nicht umsonst einen ganzen Stall an Weltklasse-Sechsern, um bloß nicht in die Verlegenheit zu geraten, ohne Absicherung für Lampard dazustehen.

"I know, I know, I know"

Capello interessierte die Paranoia in seiner Wahlheimat von Anfang an freilich wenig. Er kennt schließlich ihre Geschichte: "I know, I know, I know the history."

Vielleicht seien die beiden Protagonisten bei den letzten beiden Turnieren (EM 2004, WM 2006) zu jung gewesen, sagte er einmal, nur um "Das war ein Witz" hinterherzuschieben, wohl wissend, dass man mit der heiklen Materie besser keine Scherze treibt.

"Das ist für Sie immer ein großes Thema, stimmt's?", fragte er die Journalisten. "Sie sagen, sie können nicht zusammen spielen. Ich hoffe jedenfalls, dass sie das können. Und ich werde entscheiden, ob sie zusammen spielen werden."

Capello ist nicht darum verlegen, die Rollenverteilung zwischen Lampard und Gerrard zu erläutern: "Wenn Frank und Steven für ihre Klubs spielen, denken beide sehr offensiv, weil sie die Absicherung hinter sich haben. Das bedeutet aber gleichzeitig, dass sich das ändern wird, wenn sie gemeinsam auflaufen. Wenn einer geht, muss der andere eben bleiben."

Es ist schwer vorstellbar, dass Capellos Vorgänger nicht einen ähnlichen Gameplan für die beiden Superstars entworfen hatten. Umsetzen konnten sie die Vorgaben indes nicht.

Aus Mangel an Alternativen

Inzwischen dürfte klar sein, dass Capello sein Vorhaben durchziehen wird, aber freilich nicht weil an einer Profilneurose leidet und ganz England beweisen muss, was er für ein Kerl ist.

Vielmehr ist er wohl zu dem Schluss gekommen, dass es nicht praktikabel und auch nicht notwendig ist, einen zweiten Barry in seinem System zu implementieren.

Zum einen zeichnet sich ab, dass sein Lieblingssechser womöglich schon zum zweiten Vorrundenspiel gegen Algerien (18.6.) wieder fit sein könnte. Zum zweiten gibt aber auch der Kader keine Alternative her, die Capello zufrieden stellen würde.

Tom Huddlestone (Tottenham) und Scott Parker (West Ham) scheiterten schon am Cut, und Michael Carrick von Manchester United steckt im Leistungstief. James Milner wäre noch eine Option, doch der 24-Jährige von Aston Villa dürfte ähnlich wie Carrick nicht über die Rolle des Ergänzungsspielers hinauskommen und plagt sich zudem mit Fieber herum.

Optimismus und Zynismus

Der britische Wettanbieter "Bet365" hat sich des Themas angenommen. Man kann sein Geld darauf setzen, ob im USA-Spiel zuerst Lampard oder Gerrard ausgewechselt wird oder welcher der beiden eher ins gegnerische Tor trifft.

Die Quoten lassen je nach Betrachtungswinkel verhaltenen Optimismus oder Zynismus erkennen. Mit ähnlich krude gemischten Gefühlen dürften die meisten Engländer dem WM-Auftakt entgegen sehen.

Das Revival der Gerrard-Lampard-Frage gibt beredt Auskunft über die Gemütsverfassung der Engländer, wenn es um ihr Nationalteam und dessen Durststrecke von über 40 Jahren geht und zeigt, dass der Glaube in Capellos Fähigkeiten nicht unbegrenzt ist.

Doch zieht man alle Indizien zusammen, dürfte die Variante L&G nur eine Notlösung auf Zeit sein, denn anders als seine Vorgänger hat Capello einen Plan B.

Teamporträt England: Das Trauma besiegen