WM

"Wir sind nicht mehr die Deppen des Spiels"

Von Jan Wunder
Jose Luis Chilavert wird Ende Juli 45 Jahre alt
© Getty

32 Teams nehmen an der Weltmeisterschaft in Südafrika teil. Jedes Teilnehmerland hat seine eigene Geschichte zu erzählen. SPOX greift aktuelle Entwicklungen auf, lässt Protagonisten zu Wort kommen oder beleuchtet historische Ereignisse. Heute: Paraguay.

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16. August 2001: Durch ein Unentschieden im WM-Qualifikationsspiel zwischen Paraguay und Brasilien haben beide Mannschaften soeben die Qualifikation für die Endrunde in Japan und Südkorea geschafft. Offenbar guter Dinge steuert Paraguays Torhüter Jose Luis Felix Chilavert über den Platz geradewegs auf Brasiliens Roberto Carlos zu.

Die Kameraleute wittern ein emotionales Bild und halten voll drauf, als Chilavert tief einatmet, offenbar um dem brasilianischen Superstar noch ein paar warme Worte mit auf den Weg zu geben. Aus seinem Mund kommt aber kein netter Abschiedsgruß, sondern ein großer Klumpen minutenlang angesammelten Speichels, der direkt im Auge seines Gegenüber landet.

Chilavert ist unschuldig

Noch Jahre später wird Paraguays ehemaliger Nationaltorhüter auf diese Szene angesprochen, die von den Kameras in Großaufnahme und bester Qualität festgehalten wurde.

Der mittlerweile 44-Jährige reagiert immer noch emotional: "Er war es, der mich nach dem Spiel beleidigt hatte. Wem würde es schon in den Sinn kommen, jemanden anzugreifen, ohne dass vorher etwas gewesen wäre?"

Bestimmt nicht die extrovertierte Torwart-Legende, deren lange Karriere sich zu großen Teilen aus Eskapaden und blumigen Anekdoten zusammensetzt.

"Wir können das Spiel selbst entscheiden"

1988 wechselte Chilavert nach vier Jahren in Paraguay und Argentinien nach Spanien zu Real Saragossa. Seine erste Station in Europa verlief für den ebenso talentierten wie ehrgeizigen Torhüter jedoch ernüchternd. Streitigkeiten mit dem Trainer brachten ihm letztlich einen Platz auf der Ersatzbank ein und er floh regelrecht zurück nach Südamerika.

Trotzdem markierte das dreijährige Engagement einen Wendepunkt in seiner Karriere, denn erst in Spanien wurden Chilaverts besondere Qualitäten bekannt, auch wenn sich die Anhänger erst an den mitspielenden Torhüter gewöhnen mussten: "Als ich für Saragossa spielte und regelmäßig mit dem Ball am Fuß meinen Kasten verließ, rasteten die Fans aus und brüllten mich an, ich solle schleunigst wieder ins Tor zurückkehren", erinnert er sich.

Während seiner Zeit auf der iberischen Halbinsel begann er beinahe täglich Sondereinheiten zu absolvieren, um seine Schusstechnik bei Elfmetern und Freistößen zu optimieren. Je nach Laune, schoss er bis zu 120 Bälle auf den leeren Kasten. "Nun sind wir nicht mehr die Deppen des Spiels, die nur in ihrem Tor warten und bei jedem Fehler hart kritisiert werden. Wir können das Spiel selbst entscheiden" verkündete er damals.

Ein Tor aus 60 Metern

1991 heuerte der Querdenker bei Velez Sarsfield an. Neun Jahre sollte er dem argentinischen Klub treu bleiben und die erfolgreichste Zeit seiner Karriere erleben. Er wurde Meister und gewann unter anderem die Copa Libertadores. Knapp 30 Tore steuerte er bei und heimste 1995, 1997 und 1998 sogar den Titel "Welttorhüter des Jahres" ein.

Ein besonders spektakulärer Treffer gelang ihm im März 1997: Einer seiner Mitspieler wurde kurz vor der Mittellinie gefoult und wälzte sich vor Schmerzen am Boden. Chilavert sprintete aus dem Tor, rief seinen entsetzten Mitspielern "Aus dem Weg, den versenke ich!" zu und setzte den Ball aus 60 Metern unter die Latte.

Paraguay = Chilavert

El Arquero (der Bogenschütze) leistete sich aber auch immer wieder Aussetzer, die seine Popularität noch steigerten, ihm aber einen zweifelhaften Ruf eintrugen. Der Waffennarr verprügelte einen Journalisten, der in einem Nebensatz bemerkt hatte, dass Chilavert an Gewicht zugelegt hätte. Den kolumbianischen Stürmerstar Fausto Asprilla malträtierte er einst mit einem Fausthieb.

Für gegnerische Fans und Spieler wurde er mehr und mehr zu Reizfigur. Nach Niederlagen begleiteten ihn Schmähgesänge auf dem Weg in die Katakomben.

Einzig die Menschen in seinem Heimatland hielten immer vorbehaltslos zu ihrem Superstar: In Paraguay wurden für ihn schon mal Recht und Gesetz zurechtgerückt. Als er wegen einer Schlägerei gut ein Jahr Berufsverbot und eine Gefängnisstrafe von drei Monaten absitzen sollte, nominierte ihn der damalige Nationaltrainer bereits drei Tage später wieder für ein Länderspiel und der unverbesserliche Keeper durfte für sein Land auflaufen.

Das zweite Gesicht

Die WM 1998 in Frankreich hebt Chilavert als das Ereignis seiner Karriere hervor. Als totaler Außenseiter qualifiziert, äußerte er im Vorfeld Ansprüche auf den Weltmeistertitel. Paraguay entpuppte sich als Überraschungsteam und zog mit nur einem Gegentor ins Achtelfinale gegen Frankreich ein.

Das Spiel sollte zu seiner persönlichen One-Man-Show werden, bei der Chilavert bis zur 113. Minute seinen Kasten mit sensationellen Paraden sauber halten konnte, ehe Laurent Blanc das Golden Goal für den Gastgeber und späteren Weltmeister erzielte. Der Keeper tobte und sogar als neutraler Zuschauer war man froh, dass sich bei seinem ersten Ausbruch niemand in seiner unmittelbaren Nähe befand.

Doch nur einen winzigen Moment später zeigte der grantige Tohüter sein zweites Gesicht: Fast schon liebevoll kümmerte er sich um seine vor Erschöpfung und Enttäuschung am Boden liegenden Mitspieler, sprach ihnen Mut zu und richtete einen nach dem anderen wieder auf.

Abstieg und Pokalsieg

2000 ging er noch einmal nach Europa. In Strasburg durchlebte er - bezeichnend für seine gesamte Karriere - Licht und Schatten: Nachdem der Abstieg 2001 bereits feststand, führte er den kleinen Klub zum Pokal-Sieg. Im Elfmeterschießen wehrte er einen Schuss ab und traf selbst zur Entscheidung.

Bei der WM 2002 in Japan und Südkorea überstand Paraguay abermals die Vorrunde und traf im Achtelfinale auf Deutschland. "Bei einem Sieg über Deutschland wäre bei uns Karneval, dann könnte Jose Luis Chilavert sogar Staatspräsident werden", sagte damals ein Journalist aus Paraguay.

Deutschland gewann das Spiel bekanntlich 1:0, und Chilavert beendete nach der WM frustriert seine Nationalmannschaftskarriere. Seitdem verging kaum ein Tag, an dem er sich nicht als Nationalcoach ins Gespräch bringt: "Ich habe Erfahrung und viel erlebt. Davon könnte die Mannschaft profitieren."

Am 11. November 2004 beendete er dann auch seine Vereinskarriere. Im letzten Spiel für Velez Sarsfield, wie sollte es auch anders sein, traf er per Freistoß.

"Beckenbauer des paraguayischen Fußballs"

Auch ohne Chilavert qualifizierte sich Paraguay für die WM in Deutschland 2006, wo man jedoch in der Vorrunde scheiterte. In Südafrika trifft die "Albirroja" nun auf die Slowakei, Italien und Neuseeland. Eine machbare Gruppe. Aber unabhängig vom Abschneiden des Teams wird sich Chilavert spätestens nach dem Turnier bei den Verantwortlichen ins Gespräch bringen. Und wie immer wird er dafür nicht nur Lob ernten.

Chilavert genießt es zu polarisieren. Selbstinszenierung war schon immer eine seiner größten Stärken. Fast zwangsläufig landete der wahrscheinlich bekannteste Paraguayer beim Fernsehen. Chilavert reist durch Südamerika und sucht junge Spieler, die an einer Fußball-Reality-Show in den USA teilnehmen wollen.

Seine besondere Form des Understatements hat sich der 44-Jährige bis heute bewahrt. In verhältnismäßig weniger bescheidenen Momenten denkt er dann auch schon einmal laut darüber nach, der "Beckenbauer des paraguayischen Fußballs zu werden". Oder kokettiert mit einer Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl in Paraguay. Alles realistische Ziele. Zumindest zum Frank Rijkaard des paraguayischen Fußballs hat er es ja schon vor langer Zeit gebracht.

Der komplette WM-Spielplan im Überblick