WM

Die Geschichte vom Frosch

Von Jochen Tittmar
Raymond Domenech ist seit Juli 2004 Frankreichs Nationaltrainer - und steht seither in der Kritik
© Getty

32 Teams nehmen an der Weltmeisterschaft in Südafrika teil. Jedes Teilnehmerland hat seine eigene Geschichte zu erzählen. SPOX greift aktuelle Entwicklungen auf, lässt Protagonisten zu Wort kommen oder beleuchtet historische Ereignisse. Heute: Frankreich.

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Der französische Klubfußball erlebt auf europäischer Bühne momentan so etwas wie eine kleine Renaissance. Mit Girondins Bordeaux, dem Team mit der höchsten Punkteausbeute der Champions-League-Gruppenphase, und Olympique Lyon stehen sich zwei Teams der Ligue 1 im Viertelfinale der Königsklasse gegenüber. Zu den besten vier Mannschaften Europas wird also ein Verein aus Deutschlands Nachbarland gehören.

Auch die nationale Meisterschaft ist nach der Wachablösung von Serienmeister OL spannend wie lange nicht mehr, mit Montpellier mischt sogar ein Aufsteiger um den Titel mit.

Domenech im Kreuzfeuer der Kritik

Alles in Butter also, möchte man meinen. Doch das größte Sorgenkind der Grande Nation bleibt die Nationalmannschaft. Die Truppe von Trainer Raymond Domenech schaffte es in letzter Sekunde mit unerhört viel Glück zur WM ("Le Figaro": "Darauf kann man nicht stolz sein") und wusste seit der überraschenden WM-Finalteilnahme 2006 trotz teilweise herausragender Einzelkönner (Franck Ribery, Thierry Henry, Karim Benzema) kaum mehr zu überzeugen.

Wenn man im Land des Weines nach dem Schuldigen für die immer dürftigeren Leistungen sucht, zeigt der Großteil der Meinungsmacher und Fans erbost auf Domenech.

Es hat sich längst etabliert, dass der Selectionneur Zielscheibe härtester Kritik ist - doch trotz des Desasters bei der EM 2008 (Aus nach der Vorrunde) und der glücklichen WM-Qualifikation darf Domenech die Equipe Tricolore auch in Südafrika coachen. Die ebenfalls in der Kritik stehenden Verbandsbosse um Präsident Jean-Pierre Escalettes vertrauen dem 58-Jährigen. Warum, weiß keiner so recht.

"Marionnette Escalettes"

Auffällig ist, dass außer Michel Platini (1988 bis 1992) und Domenech-Vorgänger Jacques Santini (2002 bis 2004) jeder Nationaltrainer fest mit der FFF (Federation Francaise de Football) verwurzelt war. Domenech arbeitet seit 1993 beim Verband und begann dort als U-20- und U-21-Trainer. Bis heute hat er allerdings noch keine einzige Trophäe in seinen Wandschrank stellen können.

Die Experten im Land sprechen Domenech zwar ab, ein guter Trainer mit erkennbarem Konzept zu sein, sehen das Grundproblem der sportlichen Misere aber in der übergroßen Macht des Verbandes.

Die Angst der Verbandsoberen um "Marionnette Escalettes", wie der mächtige Präsident in Frankreich spöttisch genannt wird, vor den in den Medien gehandelten Nachfolgekandidaten wie Laurent Blanc oder Didier Deschamps ist groß. Sie befürchten das Klinsmann-Syndrom: Ein junger, aufstrebender Coach mit Rückhalt im Land zettelt die große Revolution an, erneuert und modernisiert die Strukturen und fängt quasi bei null an.

Erst kürzlich schlug 98er-Weltmeister Bixente Lizarazu eine "deutsche" Lösung vor, wonach der zukünftige Nationalcoach von einem Manager a la Oliver Bierhoff unterstützt werden soll. Die erhoffte Diskussion kam jedoch nicht zustande, da sie unter anderem vom äußerst einflussreichen Verbands-Vize Noël Le Graët (Präsident des EA Guingamp) bereits im Keim erstickt wurde.

Henry mit harten Worten

Also darf Domenech weiter machen - bis die WM vorbei ist. Dann läuft der Vertrag des gebürtigen Lyonnais aus und wird nicht verlängert. Ende April, Anfang Mai will die FFF den Nachfolger vorstellen. Ein Zeitpunkt, der Kopfschütteln auslöst. Eine ruhige, konzentrierte Turniervorbereitung ohne weitere Personaldiskussionen ist damit quasi ausgeschlossen.

Wenn man den letzten Auftritt der Nationalmannschaft zugrunde legt, ist dem französischen Fan jetzt schon angst und bange. Gegen gütige Spanier setzte es in einem Testspiel eine 0:2-Pleite, die einem fußballerischen Offenbarungseid glich - trotz Akteuren wie Ribery, Henry oder Yoann Gourcuff liefen die Bleus planlos und ohne erkennbare Spielausrichtung durch die Gegend.

Bereits Anfang September letzten Jahres schlug Henry vor dem abermals enttäuschenden 1:1 in der WM-Qualifikation gegen Rumänien Alarm. Der 32-Jährige soll Domenech vor versammelter Mannschaft rund gemacht haben.

Das Generationenproblem

"Ich spreche im Namen der Mannschaft. Wir langweilen uns während der Trainingseinheiten. In zwölf Jahren im Nationalteam habe ich so eine Situation noch nicht erlebt. Wir wissen nicht, wie wir spielen sollen, wo wir auf dem Platz stehen müssen, wie wir uns organisieren müssen. Wir haben keinen Spielstil, keine Richtung. So funktioniert es nicht", waren die Worte Henrys, die wenig überraschend prompt in französischen Zeitungen abgedruckt wurden.

"Der Bruch zwischen Domenech und der Mannschaft ist perfekt. Das, was jeder sieht, denkt und schreibt, hat Henry intern angesprochen", urteilte "Le Parisien".

Dass Henry mit seiner Meinung nicht ganz falsch liegt, zeigte seitdem so gut wie jeder der uninspirierten Auftritte des Vizeweltmeisters von 2006.

Zur spielerisch-taktischen Armut gesellt sich seit der EM 2008 noch ein weiteres Dilemma: Ein ausgewachsenes Generationenproblem.

"...so muss der Frosch leiden"

Schon nach der missratenen EM räumte Domenech ein, dass es Probleme zwischen alten und jungen Spielern gegeben habe. Die Vorbereitung auf das Turnier sei schlecht gewesen, deshalb seien einige Alte nicht in Top-Form gewesen und die Jungen sauer, dass sie nicht zum Einsatz kamen, so Domenechs Analyse damals. Geändert hat sich seitdem wenig.

In der Mannschaft rumort es, die Stimmung zwischen jungen und alten Spielern wie Henry, Patrick Vieira oder William Gallas ist von mangelndem Respekt gekennzeichnet, der sich in fehlendem Teamgeist und mangelnder Unterstützung auch auf dem Spielfeld widerspiegelt.

Domenech, dem im eigenen Land vorgehalten wird, launisch und schwer erreichbar zu sein, ficht das Ganze kaum an. Stattdessen erzählt er die Geschichte vom Frosch, den man in heißes Wasser wirft: "Macht man das, so muss der Frosch leiden. Wirft man den Frosch hingegen erst ins kalte Wasser und erhöht dann nach und nach die Temperatur, dann gewöhnt er sich daran und hält es viel länger aus."

Del Bosque macht Mut

In knapp drei Monaten ist Domenechs Zeit aber endgültig abgelaufen. Die Anhänger der Bleus schauen pessimistisch in Richtung Südafrika.

Einen kleinen Mutmacher hatte allerdings Spaniens Coach Vicente del Bosque parat, nachdem er sein Team die Blauen in ihre Einzelteile zerlegt hatte: "Frankreich hat das kollektive und individuelle Potenzial dazu, eine gute WM zu spielen. Ich erinnere daran, dass in Spanien vor der EM 2008 auch keine gute Stimmung herrschte - und am Ende haben sie den Titel gewonnen."

Als del Bosque diese Aussage tätigte, war das Publikum im Pariser Stade de France gerade mit dem Auspfeifen der eigenen Spieler beschäftigt.

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