Klavierträger und hässliche Entlein

Von Stefan Moser
Im vierten Teil der Themenwoche beschäftigen wir uns mit den verschiedenen Sechser-Typen

Seit den 90er Jahren entwickelte sich das defensive Mittelfeld immer mehr zur Königsposition im modernen Fußball. Fast jede große Mannschaft hat seither auch mindestens einen großen Sechser hervorgebracht. Einen Typen, der das Spiel vor der Abwehr auf seine Weise prägte und revolutionierte. SPOX stellt sieben solcher Stilikonen vor: Sieben Meilensteile in der Entwicklung des modernen Sechsers.

Anzeige
Cookie-Einstellungen
Der Klavierträger - Claude Makelele

Ob Alf Ramsey wohl wusste, dass er gerade die jahrzehntelang verbindliche Stellenbeschreibung für eine neue Position im Fußball formulierte, als er Alan Ball nach seinem Haustier fragte? "Haben Sie einen Hund?", wollte der englische Nationaltrainer von seinem Spieler wissen. Alan Ball nickte.

"Und was machen Sie, wenn Sie mit ihm spielen?" Sein Gegenüber dachte kurz nach: "Ich werfe einen Ball - und er bringt ihn zu mir zurück." Da hob Ramsey zufrieden die Augenbrauen: "Sehen Sie! Und ich möchte, dass Sie genau das für Bobby Charlton tun."

Der erste echte Sechser war damit geboren, denn Alan Ball machte in der Tat genau das für Bobby Charlton - und wurde 1966 mit ihm und Ramsey Weltmeister.

Er prägte damit das Bild des defensiven Mittelfeldspielers für den Rest seines Jahrhunderts. Spieler wie Hacki Wimmer verdienten ihre Brötchen damit, den Spielmacher des Gegners auszuschalten und ihren talentierteren Chefs im Mittelfeld die Bälle zu apportieren.

Um die Jahrtausendwende hob Claude Makelele, der als Sidekick vor der Abwehr neue Maßstäbe für den klassischen Sechser setzte, diese Rolle auf ein neues Niveau.

Claude Makelele SPOX-Porträt

Beispielgebend war vor allem sein Geschick, dem Gegner die Bälle mit fairen Mittel vom Fuß zu klauen. Anders als seine eher grobschlächtigen Artgenossen war er clever, beweglich, elegant und technisch gut.

In Hochform bei Real Madrid erreichte er regelmäßig Zweikampfwerte von über 80 Prozent - und immer hatte Makelele anschließend den Ball sicher am Fuß, um ihn mit Vorliebe an Zinedine Zidane weiterzureichen.

Die Denke des Klavierträgers ist in erster Linie defensiv, aber er ist für die Balance des Spiels unverzichtbar, weil er überall sein muss, aber trotzdem kaum zu sehen ist. Der Raum vor der eigenen Abwehr ist sein Reich. Dort gewinnt er Bälle und leitet den Gegenangriff mit einfach Pässen ein.

 

Eine körperlich und mental extrem intensive und anstrengende Arbeit, die Ausdauer, Konzentration, Aggressivität und Intuition erfordert. Und einen Hang zum Martyrium, zur stillen Opferbereitschaft für den Erfolg der Mannschaft. Eine reichlich undankbare Arbeit im Hintergrund, die meist nur von Trainern und Mitspielern gewürdigt wird, während die Öffentlichkeit andere als Helden feiert. "Einer muss nun mal das Klavier tragen", bringt ein brasilianisches Sprichwort seine Aufgaben auf den Punkt.

Weitere Vertreter: Lassana Diarra, Didier Deschamps, Esteban Cambiasso

 

Der Spielmacher - Andrea Pirlo

Eigentlich hielt sich Gennaro Gattuso selbst für einen recht brauchbaren defensiven Mittelfeldspieler, als er 2001 beim AC Milan einen jungen Mann kennenlernte, der ihn in eine handfeste Sinnkrise stürzte.

"Als ich gesehen habe, was der mit dem Ball macht, musste ich mich unweigerlich fragen: Darf ich mich überhaupt Fußballspieler nennen?" Der Neue, der den sonst eher robusten Gattuso plötzlich an seiner beruflichen Qualifikation zweifeln ließ, war Andrea Pirlo.

Er kam gerade aus Brescia, wohin er von Inter ausgeliehen war, war ungefähr im gleichen Alter und sollte alsbald sogar dieselbe Positionen wie Gattuso bekleiden - und trotzdem spielte er ein völlig anderes Spiel.

Denn Pirlo hatte auf dem Platz weder Schaum vorm Mund noch ein Messer zwischen den Zähnen. Im Gegenteil, eine italienische Zeitung nannte ihn nach den ersten Eindrücken ein "melancholisches Pferdchen".

Er trabte unscheinbar und gelangweilt über den Platz, er grätschte selten, spielte noch seltener Foul und nie mit dem Kopf. Und trotzdem schuf er bald das Leitbild eines neuen Spielertypus' auf der Sechs: den Spielmacher.

Er leitete die Rückversetzung des Zehners ins defensive Mittelfeld ein. Kein Wunder, immerhin war Pirlo eigentlich als Spielmacher ausgebildet worden. Nur herrschte zu seiner Anfangszeit bei Milan mit Clarence Seedorf, Rui Costa und Rivaldo ein Überangebot an offensiven Mittelfeldspielern, so dass ihn Trainer Carlo Ancelotti einfach vor die Abwehr stellte und so eine der erfolgreichsten Spieler-Umwandlungen der letzten Jahre vornahm.

Mit seinem ausgeprägten Instinkt und einem guten Auge für die Aktionen des Gegners gewann Pirlo viele Bälle, ohne sich in direkten Zweikämpfen aufzureiben. Und wo immer Gattuso und dessen Schergen einen Gegner beharkten, war Pirlo in der Nähe, um den freien Ball aufzusammeln - und sofort an die eigene Offensive weiterzugeben.

Mit seiner ausgezeichneten Technik und Spielintelligenz war und ist er weit mehr als ein Zerstörer, Staubsauger oder Apportierer. Aus der Tiefe des Raums ist Pirlo der neue Spielmacher, der den Rhythmus seiner Mannschaft bestimmt und mit chirurgischer Präzision lange Bälle in die Spitze spielt.

Er ist Dirigent, Umschaltstation sowie gefährlicher Vorbereiter in einem. Pirlos eleganten und intelligenten Stil konnte niemand bislang kopieren, seine Fähigkeiten in der Spieleröffnung aber wurden zum Vorbild.

Weitere Vertreter: Bernd Schuster, Bastian Schweinsteiger

 

Hier geht's zum zweiten Teil: Dominator und Metronom

Hier geht's zum dritten Teil: Hässliches Entlein, Box-to-Box-Player, Aggressiv Leader